Keine Opferentschädigung bei selbst provozierter aggressiver Reaktion

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat einer Frau eine Opferentschädigung für behauptete psychische Gewalt in der Ehe versagt. Ein rechtswidriger tätlicher Angriff erfordere eine physische Einwirkung auf das Opfer, psychische Gewalt genüge nicht. Zudem wäre eine Opferentschädigung unbillig, da die Frau die aggressive Reaktion selbst provoziert habe, so das LSG.

Opferentschädigung wegen psychischer Gewalt in der Ehe begehrt

Die 1961 geborene, schwerbehinderte Klägerin begehrte eine Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie behauptete psychische Gewalt durch ihren Ex-Mann während der Ehe. Sie habe ein 20jähriges Martyrium durch ihn erlebt, das durch Erniedrigungen, Beschimpfungen und Aggressivität geprägt gewesen sei. Der Gipfel der erlebten Gewalt sei ein Angriff im Januar 2017 gewesen, als die Situation zu Hause völlig eskaliert sei. Sie habe ihn an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Daraufhin sei er aggressiv und wütend geworden, habe sie angeschrien, dass er gesund sei, und sie beschimpft. Auch hätte er sie dreimal umgestoßen, wodurch sie glücklicherweise nicht verletzt worden sei. Kurz darauf habe sie fluchtartig die Wohnung verlassen und sei seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt.

Strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingestellt: Aussage gegen Aussage 

Zwei Wochen später erstattete die Klägerin Strafanzeige gegen ihren Mann. Dieser schilderte die Situation bei der Staatsanwaltschaft wiederum anders. Er habe sich von seiner Ehefrau trennen wollen und sie Ende 2016 gebeten, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Auch habe sie sein Schlafzimmer als Rückzugsraum im Januar 2017 nicht akzeptiert, sondern mit ihm diskutieren wollen. Dabei hätte sie ihn auf sein Bett geschubst und sein Zimmer auch auf sein Bitten und weitere Aufforderungen hin nicht verlassen. Um sich gegen ihre weiteren Attacken zu wehren, habe er sie vor sich hergeschoben, um sie so aus seinem Schlafzimmer zu entfernen. Hierbei sei sie hingefallen. Er habe sich lediglich gegen die Nötigung durch seine Ehefrau verteidigt. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Es stehe letztlich Aussage gegen Aussage. Das Land lehnte eine Beschädigtenversorgung ab. Nach erfolgloser Klage beim SG legte die Klägerin Berufung ein.

LSG: Weder gesundheitliche Schädigung noch tätlicher Angriff 

Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Schon nach den Schilderungen der Frau selbst habe sie keine gesundheitliche Schädigung erlitten. Ferner habe die Klägerin einen rechtswidrigen tätlichen Angriff nicht glaubhaft gemacht. Ihr Mann habe gegenüber der Staatsanwaltschaft ausführlich und ohne Belastungstendenzen geschildert, dass sie es gewesen sei, die nicht akzeptiert habe, dass er sich von ihr trennen und nicht mehr mit ihr habe sprechen wollen. Die Klägerin habe auch selbst angegeben, dass sie mit ihrem Mann über seine Krankheit habe reden wollen, und er daraufhin aggressiv geworden sei. Gegen einen rechtswidrigen Angriff des Ehemannes spreche auch, dass die Klägerin nicht unmittelbar polizeiliche Hilfe in Anspruch genommen, sondern mit der Anzeige gut zwei Wochen zugewartet habe.

Psychische Gewalt für tätlichen Angriff nicht ausreichend 

Auch die Angabe, jahrelang unter psychischer Gewalt ihres Ehemannes gelitten zu haben, ändere an der Entscheidung nichts. Für das OEG sei ein tätlicher Angriff erforderlich. Für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs reiche eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person ohne physische Einwirkung nicht aus. Denn nach dem gesetzgeberischen Willen sollten ausschließlich Fälle der Gewaltkriminalität einbezogen werden, die mit körperlicher Gewaltanwendung gegen eine Person einhergingen, so das LSG. Die Frau habe im Ermittlungsverfahren aber selbst angegeben, dass es während der Ehe nur zu verbalen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann gekommen sei.

Ansprüche auch unbillig: Aggressive Reaktion selbst provoziert

Zudem seien Entschädigungsansprüche auch wegen Unbilligkeit aufgrund ihres selbstgefährdenden Verhaltens ausgeschlossen. Die Klägerin habe die wesentliche Ursache für die aggressive Reaktion ihres Ehemanns dadurch selbst gesetzt hat, dass sie ihn zu einem Gespräch über seine vermeintliche psychische Krankheit habe anhalten wollen. Da sie von seinem Trennungswunsch gewusst habe, habe sie mit einer solchen Reaktion rechnen müssen. Angesichts dessen habe es keinen sachlichen Grund gegeben, überhaupt ein Gespräch über seine vermeintliche Erkrankung zu initiieren.

Scharfe Kritik vom DAV 

Nach Ansicht der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) wird diese Art der Rechtsprechung von Anwältinnen und -anwälten zu Recht kritisiert. Es werde der Eindruck erweckt, dass sich Frauen in Fällen häuslicher Gewalt "wegducken" sollten. In Gewaltbeziehungen müsse immer klar sein, wer der Aggressor und wer das Opfer ist.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.09.2022 - L 6 VG 1148/22

Redaktion beck-aktuell, 20. Dezember 2022.