"Freie Mitarbeiter" in Physiotherapiepraxis nicht immer selbstständig

Physiotherapeuten sind keine "freien Mitarbeiter" in einer physiotherapeutischen Praxis, sondern abhängig beschäftigt, wenn sie in die Organisation der Praxis eingegliedert sind und kein Unternehmerrisiko tragen. Dies hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg entschieden und ein anderslautendes Urteil des Sozialgerichts Mannheim aufgehoben.

Vertrag als "freier Mitarbeiter" in Physiotherapiepraxis

Ein Physiotherapeut (P) mit eigener privaten Praxis war von Mai 2017 bis Mitte 2019 zusätzlich als "freier Mitarbeiter" in einer physiotherapeutischen Gemeinschaftspraxis tätig. Die durchgeführten Behandlungen wurden über das Abrechnungssystem der Praxisinhaber abgerechnet, die 30% des jeweiligen Abrechnungsbetrages erhielten. Die Gemeinschaftspraxis verfügt über sechs Behandlungsräume mit einer entsprechenden Ausstattung. Besondere Behandlungsarten wie zum Beispiel Heißluft- oder Schlingentischbehandlungen werden nur in bestimmten Behandlungsräumen durchgeführt. Neben den beiden Inhabern und P waren weitere Physiotherapeuten als "freie Mitarbeiter" tätig. Rezeptionsmitarbeiter wurden keine beschäftigt. Bei der Verteilung der Patienten auf die jeweiligen Physiotherapeuten wurde zunächst einem etwaigen Wunsch nach einem bestimmten Therapeuten Rechnung getragen. Im Übrigen überprüften die Praxisinhaber, ob sie die Behandlung je nach Kapazität persönlich übernehmen konnten. War dies nicht der Fall, wurden die Behandlungen den entsprechenden "freien Mitarbeitern", abhängig von deren freier Zeitkapazität, angeboten. Entschied sich ein Physiotherapeut, eine bestimmte Behandlung zu übernehmen, setzte er sich unmittelbar mit dem Patienten in Verbindung und vereinbarte mit diesem einen konkreten Behandlungstermin.

Rentenversicherung stellte abhängige Beschäftigung fest

Die Deutsche Rentenversicherung stellte fest, dass P abhängig beschäftigt und sozialversicherungspflichtig sei. Dagegen klagten sowohl die Praxisinhaber als auch P vor dem Sozialgericht Mannheim, das ihnen Recht gab. Die für eine selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale überwögen, weil P seine Arbeitszeit selbst habe bestimmen und ihm angebotene Behandlungen von Patienten auch ohne Angabe von Gründen habe ablehnen können. Dagegen legte die Rentenversicherung Berufung ein.

LSG ändert Urteil des SG

Die Berufung hatte Erfolg. Zwar könnten auch Physiotherapeuten ihre Leistungen im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit erbringen. Maßgeblich sei aber die konkrete Ausgestaltung und die Eingliederung in die Organisationsstruktur und Arbeitsabläufe der Gemeinschaftspraxis. So habe P im Rahmen seiner Tätigkeit im Wesentlichen nur solche Patienten behandelt, deren Behandlung ihm von den Inhabern der Gemeinschaftspraxis angetragen worden sei. Zudem habe er die in der Praxis vorgehaltene Ausstattung (spezielle Behandlungsräume, Telefonanlage zur Vereinbarung von Terminen mit den Patienten, EDV-Ausstattung mit elektronisch geführter Terminplanung) genutzt. Über eigene Behandlungsräume, die er jederzeit ohne Abstimmung mit anderen in der Praxis tätigen Physiotherapeuten hätte in Anspruch nehmen können, habe P in der Gemeinschaftspraxis nicht verfügt. Zudem sei P nicht werbend aufgetreten und weder auf dem Praxisschild der Gemeinschaftspraxis als Erbringer von physiotherapeutischen Leistungen aufgeführt noch im Internetauftritt der Gemeinschaftspraxis als solcher namentlich genannt. Darüber hinaus sei die Abrechnung der von P durchgeführten Behandlungen mit den Krankenkassen beziehungsweise die Rechnungsstellung gegenüber den Privatpatienten durch die Inhaber der Gemeinschaftspraxis über das von ihr vorgehaltene Abrechnungssystem erfolgt.

Kläger hat kein Unternehmerrisiko getragen

P habe auch kein nennenswertes Unternehmerrisiko getragen. So habe P weder eigenes Kapital noch die eigene Arbeitskraft mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt. Seine Tätigkeit habe keine relevanten Betriebsmittel erfordert. So habe er für die erbrachten Behandlungsleistungen eine Vergütung in Höhe von 70% der von der Gemeinschaftspraxis abgerechneten Vergütungen mit den gesetzlichen Krankenkassen und der Privatpatienten erhalten. Das Risiko, nicht wie gewünscht arbeiten zu können, weil Behandlungsmöglichkeiten anderweitig vergeben worden seien, stelle kein Unternehmerrisiko dar, sondern eines, das auch jeden Arbeitnehmer treffe, der nur Zeitverträge bekomme oder auf Abruf arbeite und nach Stunden bezahlt werde. Für seine Tätigkeit habe P zudem lediglich eine tragbare Liege und Kinesiotape und damit keine nennenswerten Betriebsmittel eingesetzt. Die Kosten für den Unterhalt seines Kraftfahrzeugs bedingten kein unternehmerisches Risiko, weil Kraftfahrzeuge zur Erreichung des Arbeitsplatzes regelmäßig auch von Beschäftigten unterhalten würden.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.07.2021 - .07.2021 L 4

Redaktion beck-aktuell, 27. September 2021.