Jahresabschlüsse in jedem Fall nichtig
Für die Annahme der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse sei es ungeachtet des Vortrags des Insolvenzverwalters nicht darauf angekommen, ob die Saldenbestätigungen für Treuhandkonten bei einer asiatischen Bank tatsächlich gefälscht waren und die entsprechenden Third Party Acquiring-Geschäfte zumindest im Wesentlichen nicht stattgefunden haben. Bei der in diesem Fall anzunehmenden Überbewertung von Aktiva ergebe sich die Nichtigkeit aufgrund von § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG. Selbst wenn die vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden geltend gemachte Existenz dieser Gelder auf anderen Konten stimmen sollte, läge eine Nichtigkeit der Jahresabschlüsse wegen Verstoßes gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung vor, weil die Einzahlungen der Gelder dann auf anderen Konten hätten aufgefunden werden müssen und dadurch gläubigerschützende Vorschriften verletzt seien.
Fehler waren erheblich
In beiden Sachverhaltskonstellationen hat das Gericht auch die Erheblichkeit des Fehlers bejaht, weil die Überbewertung etwa 39% beziehungsweise 41% der jeweiligen Bilanzsummen von knapp 1,9 Milliarden beziehungsweise etwas mehr als 2,3 Milliarden Euro ausmache. Die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse habe aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 253 Abs. 1 Satz 1 AktG die Nichtigkeit der in den Hauptversammlungen der Jahre 2018 und 2019 gefassten Gewinnverwendungsbeschlüsse zur Folge. Eine Beweisaufnahme zur Existenz der Third Party Acquiring-Geschäfte sei entbehrlich gewesen, weil der abweichende Vortrag vor allem des dem Verfahren als Streithelfer auf Seiten der Beklagten beigetretenen früheren Vorstandsvorsitzenden zu keinem anderen Ergebnis geführt habe als der Vortrag des Klägers.
Insolvenzverwalter kann Dividenden und Steuern zurückfordern
Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte der Insolvenzverwalter damit die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe von den Aktionären zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern. Munition liefert das Urteil aber auch für die knapp 1.000 Klagen empörter Aktionäre gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die Wirecard-Bilanzen geprüft und testiert hatte. Der Konzern war 2020 nach dem Eingeständnis von Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro zusammengebrochen, der frühere Vorstandschef Markus Braun sitzt seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wirecard hatte 2017 und 2018 hohe Gewinne von zusammen mehr als 600 Millionen Euro ausgewiesen und einen zweistelligen Millionenbetrag an Dividenden ausgeschüttet. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die bis heute vermissten 1,9 Milliarden Euro frei erfunden waren. Braun verteidigt sich dagegen mit dem Argument, die 1,9 Milliarden gebe es, das Geld sei aber andernorts verbucht gewesen.
Aktionärsvereinigung sieht steigende Chancen für Aktionäre
Die Aktionärsvereinigung DSW sieht mit dem Urteil gestiegene Erfolgschancen für die knapp 1.000 Klagen gegen EY. Nach Argumentation von Ex-Wirecardchef Braun sei das Geld "irgendwo ganz anders", sagte DSW-Vizepräsidentin Daniela Bergdolt nach der Urteilsverkündung. "Aber auch dann ist die Buchhaltung, die Buchführung von Wirecard grottenfalsch gewesen. Auch das hätten sie" - die EY-Prüfer - "dann merken müssen." Für Braun steht im Juni die nächste Haftprüfung an. Im Strafverfahren prüft das Landgericht München derzeit die Anklage gegen ihn. Sollte die Anklage zugelassen werden, könnte der Strafprozess noch in diesem Jahr beginnen.