50 Jahre nach Schüssen am Grenzübergang: Mordurteil gegen Ex-Stasi-Offizier
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Mitten am Tag wird ein Mann 1974 am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin hinterrücks erschossen. Doch erst jetzt erging ein Urteil: Das LG Berlin I verhängte eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren gegen einen inzwischen 80-jährigen Ex-Stasi-Offizier wegen Mordes.

Aus Richtersicht gibt es keinen Zweifel daran, dass der damalige Oberleutnant am 29. März 1974 aus einem Hinterhalt heraus den 38-jährigen Polen Czeslaw Kukuczka im Auftrag des DDR-Geheimdiensts erschossen hat. "Es war nicht die Tat eines Einzelnen aus persönlichen Gründen, sondern von der Stasi geplant und gnadenlos ausgeführt", sagte der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka bei der Urteilsbegründung. Der Angeklagte sei es gewesen, der "am Ende einer Befehlskette" den Schuss abgefeuert habe. Dafür sei er später mit einem "Kampforden" ausgezeichnet worden.

Mit seinem Urteil blieb das Gericht unter dem Antrag der Berliner Staatsanwaltschaft, die zwölf Jahre Haft beantragt hatte. Die Verteidigerin des Angeklagten hatte einen Freispruch gefordert. Es sei nicht erwiesen, dass ihr Mandant der Schütze gewesen sei, so Rechtsanwältin Andrea Liebscher.

Der 80-Jährige aus Leipzig hatte vor Gericht zu den Vorwürfen geschwiegen; seine Verteidigerin hatte zu Prozessbeginn erklärt, ihr Mandant bestreite diese. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Opfer wurde in Falle gelockt

Laut Urteil gehörte der Sachse einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an und war mit der "Unschädlichmachung" des Polen beauftragt worden (Urteil vom 14.10.2024 - 529 Ks 7/23). Zuvor soll dieser in der polnischen Botschaft versucht haben, seine Ausreise nach West-Berlin mit einer Bombenattrappe zu erzwingen.

Das MfS soll den 38-Jährigen mit einer fingierten Ausreise in eine Falle gelockt haben. Er habe Dokumente erhalten und sei von Stasi-Mitarbeitern zum Bahnhof Friedrichstraße begleitet worden. Als er dort jedoch den letzten Kontrollpunkt passiert hatte, fiel der Schuss.

Es waren westdeutsche Schülerinnen einer 10. Klasse, die zufällig Zeuginnen der Tat wurden. Sie hatten Ost-Berlin besucht und wollten zurück in den Westen der damals geteilten Stadt. Eindrucksvoll schilderten mehrere damalige Schülerinnen aus Hessen vor Gericht die Geschehnisse – und ihre Angst und Fassungslosigkeit.

Entscheidender Hinweis erst 2016

Damals gab es eine erfolglose Anfrage an die Justiz im Osten, wie ein Berliner Kommissar im Prozess schilderte. Der Polizist bekam die alten Akten für die neuen Ermittlungen auf den Tisch. Doch über viele Jahre hinweg gab es keine Fortschritte.

Erst im Jahr 2016 lieferte das Stasi-Unterlagen-Archiv einen entscheidenden Hinweis zur möglichen Identität des Schützen: Ein vom damaligen Staatssicherheitsminister Erich Mielke unterzeichneter Befehl nannte zwölf MfS-Mitarbeiter, die im Kontext der Tötung ausgezeichnet werden sollten. Der Angeklagte wurde laut Schriftstück von der Stasi mit dem "Kampforden in Bronze" ausgezeichnet.

Die Staatsanwaltschaft ging zunächst jedoch von einem Totschlag und nicht von Mord aus und stellte das Verfahren 2017 ein, weil die Tat in diesem Fall verjährt gewesen wäre. 2023 erhob die Staatsanwaltschaft Berlin jedoch Anklage, weil sie inzwischen das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt sah. Hintergrund für die neue Bewertung war ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten nach beharrlichen Nachforschungen auf polnischer Seite.

Das LG entschied nun, dass der Pole arglos war, als er von hinten erschossen wurde, denn er habe nicht mehr mit einem Eingreifen der Grenztruppen gerechnet, da die Behörden aus seiner Sicht auf seine Forderungen eingegangen waren. Den Schützen, der sich planmäßig hinter einer Sichtblende versteckt hatte, um diese Arglosigkeit des Geschädigten auszunutzen, habe er nicht wahrgenommen.

Zwar habe der damalige Stasi-Offizier auf Geheiß seiner Vorgesetzten gehandelt, gleichwohl sei sein Handeln weder nach bundesdeutschem noch nach dem damals in der DDR geltenden Recht gerechtfertigt gewesen. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, die Staatsdoktrin der DDR zu erfüllen, nämlich die Ausreise von Bürgern der DDR und ihren sogenannten Bruderstaaten um jeden Preis zu verhindern, so der Vorsitzende der Kammer in seiner heutigen Urteilsbegründung.

Auszeichnung mit "Kampforden" führte auf die Spur

Richter Miczajka hatte zu Prozessbeginn deutlich gemacht, wo die Schwierigkeit rund 50 Jahre nach der Tat liegt: "Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen." Das Gericht müsse sich ein Bild davon machen, wie verlässlich diese seien. Es ging vor allem um den Vorschlag zur Auszeichnung mit dem "Kampforden" nach der Tat. Mehrfach in den vergangenen gut sechs Monaten forderte die Kammer vom Stasi-Unterlagen-Archiv Skizzen oder Schriftstücke an. Eine Sachverständige für Geschichtswissenschaften und mehrere der damaligen Schülerinnen und Schüler wurden als Zeugen gehört.

Die Strafhöhe von zehn Jahren richtet sich nach dem damals geltenden § 112 Abs. 1 des Strafgesetzbuches der DDR, weil dieses das mildeste Recht darstellt. Der Miczajka sagte in seiner mündlichen Urteilsbegründung weiter, es habe sich auch für eine Schwurgerichtskammer um einen außergewöhnlichen Fall gehandelt, weil der Angeklagte nicht aus persönlichen Motiven, sondern im Auftrag der Stasi gehandelt habe, die die Voraussetzungen geschaffen, den Befehl erteilt und für die "gnadenlose" Ausführung gesorgt habe.

Der Prozess wurde wegen seiner historischen Bedeutung aufgezeichnet. Die Angehörigen des Opfers – eine Tochter, zwei Söhne und eine Schwester – traten im Verfahren als Nebenkläger auf. Es sei ihren Mandanten nie um eine bestimmte Strafe oder Rache gegangen, betonten die Anwälte. "Die Nebenkläger sind dem Gericht, dem deutschen Staat dankbar, dass es dieses Verfahren gab", so Anwalt Rajmund Niwinski.

LG Berlin I, Urteil vom 14.10.2024 - 529 Ks 7/23

Redaktion beck-aktuell, bw, 14. Oktober 2024 (ergänzt durch Material der dpa).