beck-aktuell: Sie sind mit 35 Jahren aus einer Wirtschaftskanzlei in die Justiz gewechselt. Das ist ziemlich ungewöhnlich - allerdings waren Sie zuvor, noch bei Ihrem alten Arbeitgeber Allen & Overy, schon ein paar Monate in Teilzeit tätig. Dachten Sie sich, die Teilzeitstelle bei A & O könnte etwa dem Arbeitspensum einer Vollzeitstelle in der Justiz entsprechen?
Leif Schubert (lacht): Das wäre schön. Ich arbeite aber schon immer etwas zu gerne. Deswegen war das tatsächlich kein Motiv. Wer in die Justiz wechselt, nur um wenig zu arbeiten, ist dort nicht richtig aufgehoben. Es ist bei Gericht aber strukturell selbstbestimmter: Täglich kommt eine zweistellige Anzahl an Akten rein und ich arbeite das für mich ab. Das ist wie Wellenreiten. Ich entscheide selbst, wann ich aufs Wasser gehe und wieviele Wellen ich mitnehme.
In der Wirtschaftskanzlei arbeitet man meist über Monate nur an wenigen Mandaten. Da erwartet die Mandantschaft, die Ansprechperson durchgehend zu erreichen und die anderen Teammitglieder muss ich fortwährend koordinieren. Das ist wie Tiefseetauchen im U-Boot: Da kann ein Einzelner nicht einfach zwischendrin aussteigen. Bin ich teilzeitbedingt beim Kinderturnen und jemand ruft an, springt ein anderer Senior Associate ein. Dann bin ich bald nicht mehr der Ansprechpartner im Mandat. In der Justiz wechselt eine Akte dagegen nur selten ungewollt den Schreibtisch.
beck-aktuell: Aber was gab den Anlass?
Schubert: Ich wollte schon immer etwas mit Jura und mit Menschen machen – das ist ja nicht unbedingt bei allen Juristen so. Jura in der Wirtschaftskanzlei war sehr spannend. Aber mir hat zunehmend der Vollkontakt mit dem Leben gefehlt. Dann kam unser Nachwuchs auf die Welt. Meine Frau arbeitete damals auch in derselben Wirtschaftskanzlei. Wir sagten uns dann: Jetzt machen wir beide hälftig Teilzeit. Anschließend wollten wir probieren, ob das in der Justiz noch besser klappt. Um uns hat sich die Wirtschaftskanzlei redlich bemüht und ist beim Thema Teilzeit viel engagierter als man denkt. Aber in Teilzeit bleibt es in der Anwaltschaft strukturell ein Kampf um die Mandatsverantwortung. Und ohne voll in der Verantwortung zu stehen, macht es mir keinen Spaß.
"Viele Richter sind dankbar, wenn Großkanzleien am Verfahren beteiligt sind"
beck-aktuell: Wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert?
Schubert: Die Überraschung war sehr groß damals. Man hätte mich da „nicht unbedingt gesehen“, hieß es häufig. Es gibt ja dieses Klischee, dass man mit einem starken Aufbruchsgeist eher der Anwaltstyp ist.
Es gab aber dennoch durchweg Zustimmung zu meiner Entscheidung: Die Justiz genießt gerade in den Wirtschaftskanzleien ein sehr hohes Ansehen. Den Anwältinnen und Anwälten dort ist klar, dass das Urteil zu den Schriftsätzen, die wir in der Kanzlei vielleicht über Wochen als Team bearbeitet haben, von einer einzelnen Person am Gericht in einem Bruchteil der Zeit verfasst wird. Wir waren damals oft beeindruckt, was für qualitativ hochwertige Urteile wir erhalten haben. Umgekehrt sind, wenn Großkanzleien an einem Verfahren beteiligt sind, auch viele Richter dankbar, weil die Kanzleien im Zivilprozess den Sachverhalt pointieren und mit einer fundierten rechtliche Analyse unterstützen. Nach meiner Erfahrung profitieren alle, wenn die beteiligten Kanzleien gut ausgestattet sind.
beck-aktuell: Apropos gut ausgestattet: Wie ausgeprägt war der Kulturschock, als Sie aus dem Skyscraper aus Glas und Stahl in die baden-württembergische Justiz umzogen?
Schubert (lacht): Gerade in Frankfurt sitzen ja buchstäblich alle Wirtschaftskanzleien in hohen Elfenbeintürmen, im Vergleich dazu ist die baden-württembergische Justiz schon eher ein Einfamilienhaus. Ich hatte zuvor gar nicht darüber nachgedacht, dass ich womöglich keine Klimaanlage haben könnte. Dieser Sommer hat mich dann eindrücklich daran erinnert. Aber, ganz ehrlich: Über solche Gesichtspunkte habe ich mir noch keine Sekunde wirklich Gedanken gemacht – der Blick auf den Frankfurter Opernplatz war schön, aber zu lange schaut man in der Wirtschaftskanzlei ohnehin nicht aus dem Fenster.
Technisch gesehen ist die Hardware-Ausstattung in der Justiz teilweise überraschend gut. Die Softwarelösungen sind es oft nicht so sehr. Aber die Justiz ist ein großer Tanker und zusätzlich hilft der Föderalismus mit verschiedenen Einzelwegen hier wahrscheinlich auch nicht immer.
"In der Justiz arbeiten praktisch ausnahmslos Idealisten"
beck-aktuell: Der Mann, der nie Strafrecht machen wollte, ist dann am Landgericht ausgerechnet in einer Strafkammer gelandet, als Einzelrichter machen Sie außerdem Strafvollstreckungssachen. Wie war die erste Sitzung? Wie spricht man, wenn man zuvor mit Millionen jongliert hat, mit Menschen, die sich darum sorgen, wann sie aus dem Gefängnis entlassen werden – und die ja meist keine White-Collar-Kriminellen sind?
Schubert: Ich habe damals einen Kollegen gebeten, mich zu meiner ersten Sitzung zu begleiten. Er sagte danach, man spüre zwar meine Berufserfahrung als Anwalt, aber ich sei viel zu nett, das würde schwierig werden mit den Strafgefangenen.
Ich bin trotzdem freundlich geblieben. Fast ausnahmslos mit Erfolg. Bis jetzt wurden meine Entscheidungen ganz selten angefochten und die wenigen Ausnahmen haben bisher immer gehalten. Jeder Mensch möchte bei all seinen Fehlern mit Respekt behandelt werden. Sehr viele dieser Menschen, die nun vor mir sitzen und für die es um sehr viel geht, verstehen meine Entscheidung, wenn ich sie ihnen auf Augenhöhe erläutere - selbst bei für sie ganz schlechten Nachrichten. Ohne die Erfahrung als Anwalt im Umgang mit Mandantschaft und Gerichten wäre ich das wahrscheinlich ganz anders angegangen.
beck-aktuell: Wie erklären Sie sich, dass nur sehr wenige Menschen diesen Weg einschlagen? Schließlich ist es in angloamerikanischen Rechtssystemen sogar Voraussetzung, anwaltlich tätig gewesen zu sein, wenn man ins Richteramt möchte.
Schubert: Tatsächlich ist dieser Wechsel ungewöhnlich, und ich spreche seitdem mit vielen Juristinnen und Juristen darüber. Beim Berufseinstieg geht es ihnen meistens ums Geld. Das Einstiegsgehalt hier in der Justiz entspricht brutto etwa dem Durchschnittsgehalt in Hessen. Alles gut. Aber in einer Wirtschaftskanzlei verdient man selbst als angestellter Rechtsanwalt je nach Seniorität meist das Zwei- bis Fünffache. Nach mindestens sieben Jahren Ausbildung ist doch völlig klar, dass viele erst einmal Rücklagen bilden wollen.
Das bedeutet aber umgekehrt auch, und das macht man sich oft gar nicht klar genug: In der Justiz arbeiten praktisch ausnahmslos Idealisten. Alle Richterinnen und Richter sind hochqualifiziert und könnten in einer Wirtschaftskanzlei sehr viel Geld verdienen. Sie entscheiden sich für die Justiz, weil sie ihre Aufgabe dort als wichtig empfinden. Ich glaube aber, nach einigen Jahren mit mehr Geld gäbe es auch viele Talente aus der Wirtschaftskanzlei, bei denen sich die Prioritäten verändern.
"Spezialisten haben wenig Lust, plötzlich völlig neu anzufangen"
beck-aktuell: DoWirtschaftsanwältinnen und -anwälte, die die Kanzleiwelt verlassen, wechseln in der Regel in Unternehmen und nicht in die Justiz.
Schubert: Einige haben mir gesagt, es würde ihnen in der Justiz vor allem die Planungssicherheit in den ersten Jahren fehlen. Unser Justizministerium war bei meiner Frau und mir da von Anfang an sehr engagiert. Das war bei einem Doppelwechsel in die Justiz vielleicht auch einfacher.
Hier müsste die Justiz aber grundsätzlich ansetzen, wenn sie ernsthaft mehr berufserfahrene Personen anwerben möchte. Berufserfahrung wird hier zwar für das Gehalt angerechnet, aber nicht für die Probezeit bis zu fünf Jahren – in der könnte man jederzeit örtlich innerhalb eines Bundeslandes versetzt werden. Auch Personen mit jahrelanger Berufserfahrung, die vor Ort bei ihrer Familie sein wollen.
Das gilt aber vor allem auch sachlich: Die meisten hochqualifizierten Spezialisten aus der Wirtschaftskanzlei haben wenig Lust, plötzlich in einem völlig anderen Rechtsgebiet wieder von Null an zu beginnen. Das Problem ist fachlich wieder, dass das zumindest teilweise die Präsidien der Gerichte nach den Nöten vor Ort festlegen. So bin ich am Landgericht ins Strafrecht gerutscht.
Ich bin einerseits überzeugt, dass es sinnvoll ist, dass die Justiz generalistisch aufgestellt ist und sich nicht zu tief spezialisiert. Denn sonst läuft sie Gefahr, sich zu weit von der Lebenswirklichkeit derer zu entfernen, über die sie urteilt. Aber ich bin mir andererseits auch sicher, dass man sehr viele Menschen – gerade aus den Litigation-Abteilungen -, die viele Jahre erfolgreich in einer Kanzlei gearbeitet haben, von einem Wechsel in die Justiz überzeugen könnte, wenn sie das, was sie gelernt haben, dort weitermachen könnten. Und die Gerichte würden davon, gerade auch im Wirtschaftsrecht, wo wir eine zunehmende Abwanderung in die Schiedsgerichtsbarkeit beobachten, ganz sicher profitieren.
"Mehr Lebensfragen, weniger Glasperlen"
beck-aktuell: Hat dabei für Sie auch die richterliche Unabhängigkeit eine Rolle gespielt?
Schubert: Ich habe in Kanzleien selbst nie erlebt, dass Anwältinnen und Anwälte von ihren Mandanten abhängig wären oder nicht so vortragen würden, wie sie selbst es für richtig halten. Ich glaube nicht, dass es ein weniger hohes Ethos in Kanzleien gibt als in der Justiz. Aber ein Unterschied besteht dennoch: In der Wirtschaftskanzlei entscheidet am Ende meistens der Partner. In der Justiz steht zwar jeder Kollege mit Rat und Tat zur Seite, aber es folgt immer der Hinweis: „Du bist der zuständige Richter, am Ende entscheidest Du.“ Als Anwalt hat man einen klaren Auftrag für den Mandanten; als Richter habe ich auf Wahrheit und Gerechtigkeit geschworen, und es ist meine Aufgabe, am Ende so zu entscheiden, wie ich es für wahr und gerecht halte. Was auch immer das ist. Diese Verantwortung ist einzigartig.
beck-aktuell: Hat die neue Aufgabe Sie verändert?
Schubert: Ich beschäftige mich privat jetzt mehr mit grundlegenden Dingen als früher, weniger mit Glasperlen, sondern eher mit den großen Lebensfragen. Wozu strafen wir, das ist eine der Fragen, die mir häufig gestellt werden. Dazu hat ja auch jeder Nichtjurist eine Meinung. Ich hoffe, ich bin im Privaten ein interessanterer Gesprächspartner geworden. Fragen müsste man natürlich die anderen.
beck-aktuell: Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, was Sie aus der Wirtschaftskanzlei hätten mitnehmen können in die Justiz - was wäre das? Oder vielleicht auch umgekehrt?
Schubert: Ich würde mir noch mehr Menschen in der Justiz wünschen, die den status quo in Frage stellen und ständig Verbesserungspotenzial ausloten, so wie es in Kanzleien üblich ist. Und dort, in den Kanzleien, wiederum mehr Menschen, die mit dem besonnenen, ausgleichenden Ansatz agieren, der das Denken vieler Richterinnen und Richter prägt.
Leif Schubert ist Richter auf Probe, Hochschuldozent und Alumnus der Studienstiftung des deutschen Volkes. Er war zuvor fünf Jahre Rechtsanwalt im Bereich Dispute Resolution.