Lehre aus Loveparade: Experten für spätere Verjährung bei Großverfahren

Verjährungsfristen sollten die juristische Aufarbeitung komplexer Unglücksereignisse nicht ausbremsen. Eine Verjährung sollte ausgeschlossen sein, sobald die Hauptverhandlung über solche Katastrophen begonnen hat, schlägt eine Kommission aus Rechtsexperten vor, die die Duisburger Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten vom Juli 2010 aufgearbeitet hat. Ein Strafverfahren gegen ursprünglich zehn Angeklagte war 2020 nach zweieinhalb Jahren und 184 Sitzungstagen ohne Urteil eingestellt worden.

Wahl zwischen Scheinverhandlungen oder Hauruck-Verfahren

Ein Verfahrensabbruch mitten im Hauptverfahren sei mit dem Gerechtigkeitsgedanken unvereinbar. Dies trage vor allem aus Sicht der Betroffenen nicht zum Rechtsfrieden bei, sagte der Kommissionsvorsitzende Clemens Lückemann gestern in Düsseldorf. Gemeinsam mit NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) stellte der frühere Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg den Abschlussbericht zu Lehren aus der Loveparade-Katastrophe vor. Derzeit wird eine Verjährungsgefahr erst mit einem erstinstanzlichen Urteil durchbrochen. Wenn in laufender Hauptverhandlung Verjährung drohe, würden Gerichte entweder zu "Scheinverhandlungen" oder "zu einer Überbeschleunigung im Sinne eines Hauruck-Verfahrens gezwungen", kritisierte Lückemann. Beides sei mit der Würde des Gerichts und der Rolle der Justiz als dritte Staatsgewalt unvereinbar. Aus Sicht der Betroffenen führten solche Erfahrungen "zu tiefgreifender Enttäuschung über Justiz und Rechtsstaat".

Vorschläge auf der nächsten JuMiKo

Biesenbach kündigte an, die Vorschläge der Kommission bei der nächsten Justizministerkonferenz (JuMiKO) im Juni auf die Tagesordnung zu bringen. Hier gehe es schließlich nicht um einen Einzelfall, betonte der Justizminister. Ein nicht wirklich zufriedenstellender Abschluss bei Großverfahren mit multikausalem Hintergrund sei immer wieder zu beobachten. Als Beispiele nannte er den Eschede-Prozess um ein ICE-Unglück, den Prozess um den Einsturz der Eishalle von Bad Reichenhall oder auch ausländische Gerichtsverfahren wie in Salzburg um das Unglück der Gletscherbahn Kaprun 2 oder den Seilbahnunfall im italienischen Cavalese.

Aufklärung auch über das Strafrecht hinaus

Eine weitere Lehre aus dem Loveparade-Unglück sei: "Aufklärung sollte Grenzen des Strafrechts überwinden", sagte Lückemann. Die vom NRW-Justizministerium auf Grundlage eines Landtagsbeschlusses eingesetzte Juristenkommission empfehle daher auch, eine Bund-Länder-Kommission einzusetzen, die Ursachen und Faktoren komplexer Katastrophen jenseits des Strafprozesses in den Blick nehme. Dazu könnten organisatorische und personelle Rahmenbedingungen zählen, die ein Unglück begünstigt hätten, oder auch Schwachstellen von Sicherungssystemen. Sinnvoll sei, eine Sachverständigen-Datenbank "für alle denkbaren Unglücksereignisse" aufzubauen. Im Loveparade-Prozess hatte die Suche nach einem geeigneten Sachverständigen das Verfahren verzögert. Die Experten empfehlen darüber hinaus, künftig bei jeder Staatsanwaltschaft entsprechend geschulte "Opfer-Staatsanwälte" für komplexe Verfahren bereitzustellen.

Mindestbetrag als Schadenersatz

Für materielle Entschädigungen sollten die Strafkammern einen Mindestbetrag als Schadenersatz zusprechen können, schlug Lückemann vor. "Will das Opfer mehr, muss es den Zivilrechtsweg beschreiten. Wir hören aber aus Österreich, dass Opfer sehr oft mit diesem Mindestbetrag zufrieden sind." Zum 20-Punkte-Papier der Kommission zählt außerdem die Forderung, dass Manöverkritik "selbstverständlicher Standard" werden muss. Die Justiz sollte Großverfahren nach Abschluss immer aufarbeiten - gegebenenfalls mit Nebenklagevertretern und Verteidigern, sagte Lückemann zudem. Der NRW-Landtag hatte der Landesregierung im Juni 2020 einstimmig den Auftrag erteilt, aus dem Loveparade-Verfahren Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die im Oktober 2020 vom NRW-Justizminister berufene Experten-Kommission hat nach eigenen Angaben mit Hilfe der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden 45 Interviews und Stellungnahmen professioneller Akteure des Loveparade-Verfahrens ausgewertet. Grundlage war demnach ein Leitfaden mit 100 Fragen.

Redaktion beck-aktuell, 29. März 2022.