Legastheniker ziehen wegen Zeugnisvermerk vor das BVerfG

Zeugnisse sehen nicht für alle gleich aus. Menschen mit Legasthenie etwa erhalten in einigen Fällen einen Vermerk darüber, dass ihre Rechtschreibung nicht benotet wurde. Drei ehemalige Abiturienten aus Bayern mit einer Lese-Rechtschreib-Störung meinen, dass viele Arbeitgebende durch den Hinweis abgeschreckt werden. Sie klagten dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht. Ein Urteil wird erfahrungsgemäß erst in einigen Monaten erwartet.

Klage vor dem BVerwG gescheitert

Um Menschen mit Behinderung eine Chance in Schulprüfungen zu geben, erhalten sie einen "Nachteilsausgleich". Das kann bei Legasthenikerinnen und Legasthenikern zum Beispiel bedeuten, dass sie mehr Zeit zum Schreiben bekommen. Außerdem gibt es in vielen Bundesländern, etwa Bayern, die Option auf den sogenannten Notenschutz. Auf Antrag lassen die Lehrkräfte die Rechtschreibung nicht in die Noten mit einfließen. Sie vermerken im Zeugnis, dass sie die Leistung anders bewertet haben. Nach Auffassung der Schulbehörden soll dies die Aussagekraft von Zeugnissen sicherstellen, sagte der Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth. Die drei bayerischen Schüler, die 2010 Abitur machten, sehen sich durch die Zeugnisbemerkung diskriminiert und klagten sich durch die Instanzen. 2015 erteilte ihnen das Bundesverwaltungsgericht eine Absage, weil nach seiner Ansicht kein Anspruch auf Notenschutz bestehe ohne dessen Dokumentation im Zeugnis (BeckRS 2015, 52573).

Kultusminister Piazolo: Zeugnisbemerkungen schaffen nötige Transparenz

In der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht bekräftigten die Männer in ihrer Stellungnahme, dass die Kommentare sie im Berufsleben einschränken. "Das ist, als ob wir einen Stempel bekommen mit der Aufschrift: Vorsicht, willst du mich wirklich einstellen?" Die Zeugnisbemerkungen schafften die nötige Transparenz, dass vom allgemeinen Bewertungsstandard abgewichen worden sei, argumentierte dagegen der bayerische Kultusminister, Michael Piazolo (Freie Wähler). Das sei wichtig, weil gerade Abschlusszeugnisse objektiv vergleichbar sein müssten. Die bayerische Gesetzeslage sei dabei nicht einmalig, mehrere andere Bundesländer handhabten es ähnlich.

BVerfG prüft Unterscheidung zwischen Nachteilsausgleich und Notenschutz

Der Anwalt der Kläger stellte die Abgrenzung zwischen Notenausgleich und Notenschutz infrage. Er sehe keinen Unterschied zwischen einer Hilfsmaßnahme wie einem Laptop, der automatisch die Rechtschreibkontrolle übernehme, und der Nichtbewertung der Rechtschreibung. Auch der Senat stellte der bayerischen Staatsregierung viele Fragen zu der Unterscheidung zwischen Nachteilsausgleich, Notenschutz und was wo einsortiert wird. Thema war unter anderem auch, welche Rolle moderne Technik wie Sprachassistenten und Rechtschreibprogramme für die Maßnahmen spiele.

3,4% der bayerischen Schüler haben Legasthenie

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, betonte, dass in Schulen alles getan werde, um Diskriminierung zu vermeiden. Schülerinnen und Schüler zeigten in der Regel nicht mit dem Finger auf die Betroffenen oder seien neidisch auf die Hilfsmaßnahmen. Quasi in jeder Klasse gebe es inzwischen jemanden mit Legasthenie. 3,4% der Schülerinnen und Schüler in Bayern hätten eine Lese- und Rechtschreib-Störung, sagte der berichterstattende Verfassungsrichter Josef Christ. Laut Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie sind etwa 12% der Bevölkerung in Deutschland von mindestens einer der Beeinträchtigungen betroffen.

Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie sieht Grundrechte verletzt

Verbandsvorsitzende Tanja Scherle sprach von vielen verunsicherten Eltern. Bei der Entscheidung, ob Notenschutz beantragt und damit ein Zeugnisvermerk in Kauf genommen werden soll, stünden sie vor der großen Frage: "Verbaue ich meinem Kind die Zukunft?", sagte die Mutter dreier Legastheniker. Der Anwalt des Verbands, Johannes Mierau, verwies darauf, dass die Zeugnisvermerke Grundrechte konterkarierten. Das Grundgesetz verbietet es, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen. Es ist außerdem anerkannt, dass sie einen Anspruch auf Chancengleichheit bei Prüfungen haben.

ZDH: "Warnhinweis" für viele Arbeitgebende unwichtig

Für viele Arbeitgebende sei der "Warnhinweis" auf dem Zeugnis nicht wichtig, sagte Daike Witt vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Auswahlentscheidungen in der Arbeitswelt seien oft komplexer. Wenn für einen Beruf die Rechtschreibung wichtig sei, könnte sie auch in speziellen Eignungstests geprüft werden.

Redaktion beck-aktuell, Valeria Nickel und Marco Krefting, 29. Juni 2023 (dpa).