Vor 40 Jahren: Georg Leber und Bernd Rüthers schlichten den größten Tarifkonflikt der Bundesrepublik
Hans Peter Stihl für die Arbeitgeber sowie die Schlichter Georg Leber, Manfred Gentz und Bernd Rüthers / © dpa | Roland Holschneider

Sie gehören zu den längsten und härtesten Tarifauseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland: Die Arbeitskämpfe in der Druck- und Metallindustrie 1984. Franz Josef Düwell und Sebastian Felz erinnern an Streit, Streik und Schlichtung.

Das Lob für die Schlichter kam von ganz oben. "Den verdienstvollen Beitrag, den die Schlichter Georg Leber und Bernd Rüthers in dieser Situation geleistet haben", so Bundeskanzler Helmut Kohl im Juni 1984 im Deutschen Bundestag, "möchte ich hier ausdrücklich dankbar würdigen."

Dieses Lob war mehr als verdient. Vorausgegangen waren die längsten und härtesten Tarifauseinandersetzungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – der Arbeitskampf in der Metallindustrie um die Einführung der 35-Stunden-Woche.

Bernd Rüthers, prägender Zivilrechtslehrer der deutschen Nachkriegsgeschichte und Autor der bekannten Habilitationsschrift "Die unbegrenzte Auslegung", gab später im Spiegel zu Protokoll: "Die Größenordnung des Konflikts von 1984 - das war übrigens die gemeinsame Überzeugung von Georg Leber und mir - war geeignet, beide Seiten in Existenznot zu treiben und das ökonomische wie politische System der Bundesrepublik ernsthaft zu beschädigen. Wir können heute noch dankbar sein, dass auch die Tarifparteien dieses erkannt hatten und ohne den Druck der Schlichter und der Regierung aus diesem Konflikt herausgefunden haben."

Die Minimax-Taktik

Rationalisierung und Automatisierung, "Humanisierung der Arbeitswelt", Ölkrise, Stellenabbau, angebliche "Anspruchsinflation" der Gewerkschaften – der Wandel der Arbeitsgesellschaft der Bundesrepublik im Umbruch der 1970er zu den 1980er-Jahren war massiv. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit waren die Auswirkungen der wirtschaftlichen Verwerfungen. Seit Herbst 1977 diskutierte die IG Metall mögliche Spielarten der Arbeitszeitverkürzung. Schließlich wurde Ende September 1983 von der Großen Tarifkommission der IG Metall die Einführung der 35-Stunde-Woche bei vollem Lohnausgleich gefordert. Die Arbeitgeber und die schwarz-gelbe Bundesregierung lehnten ab. Ihr Konzept bestand aus einer tariflichen Vorruhestandsregelung sowie einer stärkeren Arbeitszeitflexibilisierung. Ab Dezember 1983 wurde zäh verhandelt. Nach fünf Verhandlungsrunden und zwei erfolglosen Spitzengesprächen begannen ab März 1984 bundesweite Warnstreiks. Einen Monat später kam es zu Urabstimmungen: Die Zeichen standen auf Streik. Ab Mai 1984 legten über 70.000 Beschäftigte die Arbeit nieder.

Bernd Rüthers charakterisierte im Spiegel die Streiktaktik der IG Metall wie folgt: "[Zum] erstenmal hat sie auch eine neue Streiktaktik ausprobiert, die sogenannte Minimax-Taktik. Mit einem Minimum an Streikenden wurde ein Maximum an Wirkung angestrebt - eine Strategie, die bewundernswert ausgearbeitet und durchgeführt worden ist. Seitdem wissen wir, daß die IG Metall mit 7000 bis 10000 Streikenden den gleichen Schaden wie mit einer Million Streikenden anrichten kann." Ermöglicht wurde diese Taktik durch die "Just-in-Time"-Produktionsabläufe. Die Zulieferer speisten ihre Produkte direkt in den Fertigungsprozess ein.

Staatliche Unterstützungsleistungen für die Ausgesperrten? Kontroverse um den "Franke-Erlass"

Im Verlauf der Auseinandersetzungen wurden über 500.000 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ausgesperrt, teils "heiß" durch Ausschluss von der Arbeit durch ihre Arbeitgeber, teils "kalt", weil wegen der Störung der Lieferkette Kurzarbeit angeordnet werden musste. Mitte Mai 1984 fasste der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit einen Beschluss "betreffend den Arbeitskampf in der Metallindustrie" (ZIP 1984, 769). Der damalige Präsident der Bundesanstalt, Heinrich Franke, ordnete an, dass für alle "kalt" Ausgesperrten kein Kurzarbeitergeld gezahlt wurde. § 116 Abs. 3 des Arbeitsförderungsgesetzes i. V. m. § 5 Neutralitäts-Anordnung ließ solche Ansprüche ruhen, wenn die Gewährung des Arbeitslosengeldes bzw. des Kurzarbeitergeldes den Arbeitskampf beeinflussen würden. Die "kalte Aussperrung" und der Verlust von staatlichen Ersatzleistungen betraf über 300.000 Beschäftigte. Ende Mai 1984 demonstrieren 250.000 Menschen in Bonn "Gegen Aussperrung und Rechtsbruch. Für Arbeit und Recht". Der "Franke-Erlass" wurde vom LSG Hessen für rechtswidrig erklärt, das Kurzarbeitergeld (200 Millionen DM) musste nun doch ausbezahlt werden. Das BSG bestätigte in seinem Urteil vom 5. Juni 1991, dass die Ansprüche der betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf Kurzarbeitergeld nicht geruht hätten.

Die schwarz-gelbe Regierungskoalition änderte als Nachspiel dieses großen Arbeitskampfes das Recht. Das "Neutralitätssicherungsgesetz" modifizierte den § 116 AFG so, dass "mittelbar von Streiks betroffene Arbeitnehmer (kalte Aussperrung) keinen Anspruch mehr auf Lohnersatzleistungen der BA" haben. Diese Änderung wurde vom BVerfG gehalten. Heute ist die Regelung in § 160 SGB III normiert.

Der "Leber-Rüthers-Kompromiss"

Doch zurück in das Jahr 1984. Nach monatelangen ergebnislosen Verhandlungsrunden einigten sich die Tarifparteien auf das Verfahren der besonderen Schlichtung unter Vorsitz des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Georg Leber (SPD), von 1957 bis 1966 Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, und des Arbeitsrechtsprofessors Bernd Rüthers.

Eine Schlichtung war dringend notwendig, denn dieser Arbeitskampf wurde immer teurer. Der 52-tägige Ausstand, der am 14. Mai in Nordwürttemberg/Nordbaden begonnen hatte und bis 4. Juli 1984 andauerte, belastete die Streikkasse der Metallgewerkschaft mit Streikunterstützungszahlungen in Höhe von rund 320 Millionen DM bis an ihre Grenzen. Gleichzeitig war der durch die Arbeitsniederlegungen ausgelöste Produktionsausfall erheblich: So verzeichnete allein die Automobilindustrie den stärksten streikbedingten Umsatzeinbruch ihrer Geschichte (rund 10,5 Milliarden DM). Gesamtmetall dürfte seine Mitgliedsfirmen mit schätzungsweise 900 Millionen DM unterstützt haben.

Insbesondere Leber zeigte sich als großer Taktiker und psychologisch versierter Verhandler. Mal pushte er ins Stocken geratene Verhandlungen mit einem drängenden "Ich verlange Bewegung, meine Herren". Oder er setzte auf ein bewährtes Druckmittel: den Sitzungsmarathon. Die letzte Verhandlungsrunde zog sich über 21 Stunden hin. Versuchten Delegationsmitglieder mit Hinweis auf angeblich wichtige andere Sitzungen, den Raum zu verlassen, versperrte Leber mit dem Hinweis: "Sie wollen doch auch, dass wir fertig werden" den rettenden Ausgang.

Reduzierung und Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit

Der von Leber und Rüthers schließlich am 26. Juni 1984 unterbreitete Vorschlag sah eine Korridorlösung vor: Die durchschnittliche betriebliche Wochenarbeitszeit sollte von den Tarifvertragsparteien mit einer Bandbreite zwischen 37 und 40 Wochenstunden vorgegeben werden. Innerhalb dieser Spanne sollten die Betriebsparteien sie jeweils nach den konkreten betrieblichen Verhältnissen nach Bedarf festlegen dürfen. Indem einerseits eine flexible, den einzelnen Betrieben angepasste Regelung ermöglicht, aber andererseits die "Durchschnittsarbeitszeit aller ihrer Mitarbeiter" über das Jahr gerechnet auf 38,5 Wochenstunden beschränkt wurde, konnte die IG-Metall eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ins Feld führen.

Gleichzeitig verbuchte der Arbeitgeberverband Gesamtmetall einen Erfolg. Die als "Rasenmähermethode" gescholtene 35-Stunden-Woche wurde (zunächst) gestoppt und gleichzeitig die angestrebte Flexibilisierung in den Betrieben erreicht, die sowohl 37 als auch 40 Stunden Wochenarbeitszeit erlaubte und nur im Betriebsdurchschnitt 38,5 Stunden verlangte. So konnte die Arbeitszeit in den einzelnen Betrieben an die Produktion angepasst werden. Der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) sprach davon, dass es jetzt "Maßanzüge für die Betriebe" gebe. Der Tarifvertrag habe mit dieser besonderen Art der Delegation auf die Betriebsparteien "einen kleinen Bruder bekommen". Die Rechtsprechung des BAG bestätigte diese tarifliche Korridorlösung und deren nähere Ausgestaltung durch Betriebsvereinbarung und Einigungsstelle. Es sollte noch bis 1995 dauern, bis die 35-Stunden-Woche als tarifliche regelmäßige Wochenarbeitszeit in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie endgültig eingeführt wurde. Auch hier zeigt sich eine Weisheit Georg Lebers: Tarifkonflikte bräuchten - wie Birnen und Äpfel - Zeit zur Reife. 

Franz Josef Düwell ist Vorsitzender Richter a. D. am Bundesarbeitsgericht und Präsident der Arnold-Freymuth-Gesellschaft sowie Vorsitzender der Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Arbeitsrecht. 

Dr. Sebastian Felz ist Vorstandsmitglied des "Forum Justizgeschichte".

Redaktion beck-aktuell, Franz Josef Düwell und Dr. Sebastian Felz, 3. Dezember 2024.