Kunstblut und Feueralarm: Neue Welle der Klimaproteste

Erst lösten die Klimaaktivisten Feueralarm bei einem Kongress mit Bundeskanzler Olaf Scholz aus. Das war am Sonntagabend. Montag war Finanzminister Christian Lindner dran. Protestierende drangen in sein Ministerium an der Berliner Wilhelmstraße ein und klebten sich fest. Dienstag traf es Volker Wissing. Vor seinem Verkehrsministerium stritt die "Scientist Rebellion" mit Kunstblut für ein Tempolimit. Am Mittwoch saßen dann junge Leute auf Autobahnschilderbrücken. Am Donnerstag wieder. Und so fort.

Verantwortlich: Radikale Klimagruppe "Letzte Generation"

Rund 370 Aktionen zählt die radikale Klimagruppe "Letzte Generation" seit Jahresbeginn: Autobahnblockaden, Proteste an Pipelines und Klebeaktionen in Museen oder bei Sportveranstaltungen. Jetzt rollt eine neue Protestwelle. Die Aktivisten scheinen immer besser vernetzt – die Letzte Generation, sie sich 2021 für einen Hungerstreik in Berlin zusammentat, hat jetzt ein Bündnis mit Gruppen wie Scientist Rebellion, Debt for Climate, End Fossil Occupy und Eltern gegen die Fossilindustrie. Sie riskieren Strafen für ihre Gesetzesverstöße und großen Frust bei Menschen, die sie blockieren. Speziell in Berlin, wo die Aktivisten zuletzt sehr häufig den Verkehr lahmlegten, schäumt die politische Debatte. Der CDU-Landespolitiker Christopher Förster hat Strafanzeige wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gestellt. SPD-Innensenatorin Iris Spranger will für falsche Feueralarme Regress fordern und zürnte: "Das ist nicht lustig und wird von uns auch nicht lustig empfunden." Der Wirbel ist groß, aber nützt das dem Klima?

Kanzler und Minister reagieren verhalten

Kanzler Scholz reagierte auf den Feueralarm beim Weltgesundheitsgipfel am Sonntag eher nach dem Motto: am besten ignorieren. Auf Englisch erläuterte der SPD-Politiker: "Sie machen Proteste zu Klima und solchen Sachen und denken, das würde unsere Diskussionen verbessern. Und ich denke, der beste Weg, die Diskussionen zu verbessern, ist nicht hinzuhören und weiterzumachen." Finanzminister Linder hielt der Forderung nach einem Schuldenschnitt für arme Länder entgegen, er habe ja schon Gespräche mit afrikanischen Staaten geführt. "Die Aktion hätte ich also nicht gebraucht", schrieb der FDP-Politiker auf Twitter. Verkehrsminister Wissing (FDP) sagte erstmal: gar nichts.

Fortsetzung des Neun-Euro-Tickets und Tempolimit 100 km/h gefordert

Dabei richten sich die derzeitigen Forderungen der Letzten Generation und deren Bündnispartner direkt an ihn: ein Tempolimit auf Autobahnen und eine Fortsetzung des Neun-Euro-Tickets. "Ein Tempolimit von 100 km/h würde jährlich bis zu 5,4 Millionen Tonnen CO2 einsparen", erklären die Aktivisten auf ihrer Webseite. "Es ist sofort umsetzbar und das nahezu kostenlos." Bezahlbare Bahnen wiederum könnten noch mehr Kohlendioxid einsparen als ein Tempolimit, heißt es weiter. Anfang des Jahres forderten die Autobahn-Blockierer zuerst ein "Essen-Retten-Gesetz" gegen Lebensmittelverschwendung, dann einen öffentlichen Verzicht auf Ölbohrungen in der Nordsee. Diese Zusage der Bundesregierung zumindest haben sie nach eigenen Angaben seit Juli. Sonst gibt es wenig greifbare Resultate. Wissings Ministerium erklärte auf Anfrage mit Bezug auf das Klimaschutzprogramm der Regierung: "Ein Tempolimit ist nicht Teil der Maßnahmen". Gegen die Teilnehmer der Protestaktion vom Dienstag habe man Strafanzeige gestellt und werde wegen Sachbeschädigung Schadenersatz verlangen.

Ziviler Ungehorsam gegen Politikversagen

Früher oder später werde auch die FDP erkennen, dass ein Tempolimit im Vergleich zur Klimakatastrophe marginal sei, sagt Florian Zander von Scientist Rebellion. "Über kurz oder lang gibt es gar keine andere Möglichkeit." Vorerst sieht der promovierte Geowissenschaftler in spektakulären Aktionen vor allem einen Nutzen: Aufmerksamkeit, um neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu mobilisieren. Bei Scientist Rebellion machen nach seinen Worten derzeit 1.200 Wissenschaftler weltweit mit, davon etwa 100 in Deutschland. Sie alle seien bereit zu zivilem Ungehorsam, um das Versagen der Politik anzuprangern, sagt Zander. Ziviler Ungehorsam, das ist aus Sicht der Aktivisten gewaltfrei – doch bedeutet es in der Regel Gesetzesverstöße, zum Beispiel gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Nötigung oder Sachbeschädigung. Allein bei der Berliner Staatsanwaltschaft gab es bis Mitte Oktober 666 Verfahren. 224 Strafbefehle wurden beim Amtsgericht Tiergarten beantragt, einmal Anklage erhoben. 138 Verfahren waren offen. Die Letzte Generation selbst weiß von bundesweit 51 Fällen, in denen Termine für eine Hauptverhandlung vor Gericht angesetzt sind. Neun Aktivisten wurden demnach bereits verurteilt.

Aktivisten machen Notstand geltend

Auch Zander stand schon vor Gericht wegen einer früheren Aktion vor dem Verkehrsministerium, will aber durch die Instanzen gehen. Die Aktivisten pochen auf einen Notstand, der Widerstand erlaube. Bisher gehen deutsche Gerichte da nicht mit. Erst am Dienstag schickte ein Richter am Amtsgericht Berlin-Tiergarten einen 21-Jährigen mit 600 Euro Geldstrafe wegen Nötigung und der Ermahnung nach Hause: "Die Mittel, die Sie gebraucht haben, sind antidemokratisch. Ich kann nicht glauben, dass Ihnen nichts anderes einfällt, als andere Leute in ihren Grundrechten einzuschränken." Die Störung ihrer Mitmenschen bedauern die Aktivisten öffentlich, sie erklären sie aber für nachrangig im Vergleich zu den dramatischen Folgen eines ungebremsten Klimawandels. "Der aktuelle politische und gesellschaftliche Kurs wird Milliarden Menschen ihr Leben kosten und mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Zusammenbruch der Zivilisation führen", erklärt die Letzte Generation. "Erfolg haben wir, wenn die Klimakrise abgewandt wird." Der Widerstand werde nun Woche für Woche stärker.

Redaktion beck-aktuell, Verena Schmitt-Roschmann, 21. Oktober 2022 (dpa).