Europarat plant staatliche Schutzpflicht für Anwälte
© privat

Anwälte sind zunehmend Angriffen und staatlichen Repressalien ausgesetzt, auch die freie Mandatsübernahme und die Mandantenkommunikation sind in vielen Staaten des Europarats nicht gewährleistet. Eine Konvention zum Schutz des Anwaltsberufs soll das ändern. Christoph Henrichs hat am Text mitgearbeitet.

beck-aktuell: Herr Dr. Henrichs, in Ihrer Funktion als Vorsitzender des zuständigen Expertenausschusses im Europarat haben Sie den Text für eine Europarats-Konvention zum Schutz des Anwaltsberufs mit ausgearbeitet. Was genau verbirgt sich dahinter?

Henrichs: Die Konvention ist ein rechtlich bindendes völkerrechtliches Instrument zum Schutz der Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege. Sie enthält eine unmittelbare Verpflichtung der Staaten, Anwältinnen und Anwälte zu schützen, ihre Tätigkeit für den Rechtsstaat zu ermöglichen und sie keinen Repressalien auszusetzen. Dabei soll sie als offene Konvention ausgestaltet sein. Das heißt, nicht nur die Mitglieder des Europarats sollen ihr beitreten können, sondern alle Staaten der Welt. Ziel ist es, ein Dokument zu schaffen, das tatsächlich globale Standards zum Schutz der Anwaltschaft setzt.

beck-aktuell: Warum bedarf es einer solchen Konvention?

Henrichs: Weil erkannt wurde, dass Anwältinnen und Anwälte in einem Rechtsstaat eine zentrale Rolle für ein funktionierendes Justizsystem spielen und ihre Situation in etlichen europäischen Ländern prekär ist. Zu diesem Schluss ist jedenfalls die Parlamentarische Versammlung des Europarats schon im Jahr 2017 gelangt. Diese Versammlung hat einen Bericht zur Lage der Anwaltschaft in allen 46 Staaten des Europarats erstellt. In diesem Bericht wurde detailliert und unter Nennung vieler Einzelfallbeispiele beklagt, dass Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zum Teil in der Freiheit und Sicherheit ihrer Berufsausübung bedroht sind. In vielen Ländern seien sie Repressalien ausgesetzt, erlebten physische Bedrohungen und würden zum Teil an der Berufsausübung gehindert, bis hin zu Inhaftierungen. Namentlich hat der Bericht auf die Lage in Ländern wie Aserbaidschan, der Türkei und der Ukraine hingewiesen. Außerdem hat der Bericht festgestellt, dass sich die Situation tendenziell immer weiter verschlechtert.

Bisher kein bindendes Schutzinstrument

beck-aktuell: Wie werden europäische Anwältinnen und Anwälte aktuell geschützt?

Henrichs: Bisher gibt es weltweit kein rechtlich bindendes Instrument zum Schutz von Anwältinnen und Anwälten. Es gibt zwar einige UN-Resolutionen – etwa die "Basic Principles on the Role of Lawyers" von 1990 – und auch eine Empfehlung des Europarat-Ministerkomitees aus dem Jahr 2000 über die freie Ausübung des Rechts­an­walts­berufs. Diese ist aber nicht auf dem Stand der heutigen Bedrohungslage und ohnehin für die Staaten nicht verbindlich. Der Schutz, den die Rechtsordnungen der einzelnen europäischen Länder bieten, ist vom Niveau her sehr unterschiedlich.

Der Bericht der Parlamentarischen Versammlung von 2017 stellte fest, dass die bestehenden Instrumente in sich politisch zuspitzenden Zeiten nicht ausreichen, um die Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege zu schützen. Basierend auf diesem Bericht hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats das Ministerkomitee, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind, aufgefordert, eine Konvention zum Schutz der Anwaltschaft auszuarbeiten.

beck-aktuell: Wie genau soll die Konvention Anwältinnen und Anwälte schützen?

Henrichs: Der Konventionstext, den wir nun vorgeschlagen haben, enthält eine Reihe von Vorschriften zum individuellen Schutz der Anwältinnen und Anwälte und ihrer Tätigkeit: von der Freiheit der Mandatsübernahme über die Sicherung der ungehinderten Mandantenkommunikation bis hin zur Verhältnismäßigkeit und Gesetzmäßigkeit von Disziplinarmaßnahmen. Als zweites ebenso wichtiges Standbein enthält der Entwurf auch Regelungen zum Schutz der Berufsvertretungen. Deren Rolle ist für den Schutz der Anwaltschaft ganz zentral: Sie vertreten die Interessen der einzelnen Anwältinnen und Anwälte und insbesondere auch kollektiv die Interessen des Berufsstands gegenüber der Politik. Eine Reihe von Vorschriften im Entwurf soll die Unabhängigkeit solcher Anwaltsorganisationen sichern und den staatlichen Einfluss auf sie begrenzen. Darüber hinaus enthält der Entwurf auch Vorschriften zum Schutz der Anwältinnen und Anwälte vor physischen und auch psychischen Angriffen aufgrund ihrer Tätigkeit.

Aktive Schutzpflicht für Staaten geplant

beck-aktuell: Wie kann ein völkerrechtlicher Vertrag Anwältinnen und Anwälte vor tätlichen Angriffen bewahren?

Henrichs: Das ist tatsächlich ein Problem, denn die Konvention bindet natürlich nur die ratifizierenden Staaten. Im Konventionstext können daher nur Verpflichtungen an die Staaten selbst ausgesprochen werden. Doch auch die Angriffe auf Anwältinnen und Anwälte durch nichtstaatliche Akteure nehmen zu. Wir haben den Schutz auch vor solchen Angriffen als aktive Schutzpflicht an den Staat formuliert: Staaten müssen für einen angemessenen Schutz von Anwälten Sorge tragen, etwa durch hinreichende Strafgesetze oder auch durch Präventionsmaßnahmen. Es gibt also gewissermaßen eine Zielverpflichtung für die Staaten, Anwältinnen und Anwälte vor Angriffen zu bewahren. Natürlich kann aber kein Staat vollständig ausschließen, dass jemals ein Anwalt oder eine Anwältin auf seinem Territorium angegriffen wird.

beck-aktuell: Wie soll die Einhaltung der Konvention zukünftig sichergestellt werden?

Henrichs: Die Konvention enthält einen eigenen Überprüfungsmechanismus. Es ist vorgesehen, dass ein unabhängiges Expertengremium permanent über ihre Einhaltung wacht. Zum einen soll das durch regelmäßige Evaluierungsrunden geschehen, zum anderen können Anwältinnen und Anwälte sowie Anwaltsorganisationen dieses Gremium aber auch anrufen.

Diese Möglichkeit soll dabei ein gerichtliches Verfahren nicht ersetzen, das Expertengremium kann keine gerichtsgleichen Entscheidungen im Einzelfall treffen. Den Anwältinnen und Anwälten steht weiter der Weg zu den Gerichten offen und am Ende auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Zusätzlich – und vor allem im Falle von systemischen Verletzungen der Konvention – sollen sie aber dieses Gremium anrufen können. Es kann dann den Staat auf Konventionsverletzungen aufmerksam machen, Empfehlungen an den Staat aussprechen und auch im Ministerkomitee mit entsprechendem politischem Druck darauf hinwirken, dass die Konvention eingehalten wird.

"Schutzniveau in Deutschland schon recht hoch"

beck-aktuell: Wie geht es jetzt weiter und wann wird die Konvention in Kraft treten?

Henrichs: In dieser Woche hat der Ausschuss für rechtliche Zusammenarbeit bei seiner Plenarsitzung den Konventionstext gebilligt, übrigens im Konsens, was ein sehr erfreuliches Zeichen ist. Nun geht der Entwurf – nach formeller Beteiligung der Parlamentarischen Versammlung und den weiteren noch erforderlichen Verfahrensschritten – an das Ministerkomitee, das die Konvention formell annehmen muss.

Das wird hoffentlich früh im neuen Jahr erfolgen. Der derzeitige Vorsitz im Ministerkomitee Luxemburg steht dem Thema Schutz von Anwältinnen und Anwälten sehr nahe und hat sich daher auf die Fahne geschrieben, dass die Konvention unter seiner Präsidentschaft zur Zeichnung durch die Staaten aufgelegt wird. Das strebt Luxemburg für das Treffen der Außenminister des Europarates im Mai 2025 an. Ob das zeitlich gelingen kann, muss sich zeigen. Danach ist es die souveräne Entscheidung jedes Mitgliedstaats, die Konvention zu zeichnen und zu ratifizieren. In Kraft tritt die Konvention dann bei Vorliegen von acht Ratifikationen. Das wird also noch eine Weile dauern.

beck-aktuell: Was würde sich mit Ratifizierung der Konvention konkret in Deutschland ändern?

Henrichs: Grundsätzlich erklärt sich jeder ratifizierende Staat bereit, die Verpflichtungen aus der Konvention zu achten. Sie ist insofern rechtlich verbindlich und kann daher Anpassungen in den jeweiligen Rechtsordnungen nötig machen. In erster Linie hat die Konvention aber Staaten im Blick, in denen die Lage besonders prekär ist. Für den deutschen Gesetzgeber wird sich meiner Ansicht nach kaum Umsetzungsbedarf ergeben, weil das Schutzniveau in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten im Europarat schon recht hoch ist.  Daher könnten allenfalls kleinere Änderungen nötig werden. Im Großen und Ganzen entspricht das Schutzniveau, das wir in Deutschland haben, aber den Anforderungen der Konvention. Gleichwohl wäre eine Ratifikation durch Deutschland ein wichtiges Zeichen, auch um einen Beitrag zu leisten, damit die Konvention zügig ihre Wirkung entfalten kann.

Dr. Christoph Henrichs ist Referatsleiter in der Abteilung für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Völker- und Europarecht im Bundesjustizministerium und hat als Vorsitzender des zuständigen Expertenausschusses des Europarats den Text für eine Konvention zum Schutz des Anwaltsberufs ausgearbeitet.

Die Fragen stellte Denise Dahmen.

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen, 22. November 2024.