Portugiesische Kinder verklagen 33 Staaten wegen Klimawandel vor dem EGMR

Aus Sorge vor der Klimakatastrophe verklagen sechs junge Portugiesen Deutschland und weitere 32 Länder vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. "Eine beispiellose Aktion", sagen ihre Anwälte. Auslöser waren die verheerenden Waldbrände, die im Jahr 2017 in Portugal wüteten. Die Kläger haben eigentlich zwingende Klagen vor nationalen Gerichten ausgelassen und sind gleich nach Straßburg gegangen.

Kampf um bessere und sicherere Zukunft

Mariana ist erst acht Jahre alt, aber die ebenso junge wie tapfere Portugiesin nimmt es in ihrem Kampf um eine bessere und sicherere Zukunft für ihre Generation sogar mit Bundeskanzlerin Angela Merkel auf. Wegen des Klimawandels verklagte sie am 04.09.2020 Deutschland und 32 weitere Länder beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Mitkläger bei dieser ungewöhnlichen Aktion sind zwei ältere Geschwister des Mädchens aus Leiria im Zentrum Portugals sowie drei Freunde. "Ich habe große Angst davor, auf einem kranken Planeten leben zu müssen, wenn nichts (gegen den Klimawandel) getan wird", bekannte Mariana in einem Interview.

120 Menschen starben bei verheerenden Bränden in Portugal

Der Tropfen, der das Fass für die sechs jungen Portugiesen zum Überlaufen brachte, waren die verheerenden Brände von 2017 in ihrem Heimatland, bei denen 120 Menschen ums Leben kamen und riesige Waldgebiete zerstört wurden. "Da ist bei mir der Groschen gefallen. Wir haben die Folgen aus nächster Nähe erlebt, und ich habe gemerkt, wie dringend man handeln muss, um den Klimawandel zu stoppen", erzählt Marianas Schwester Claudia, mit 21 die älteste der Gruppe. Die Bilder der Brände vor allem in der Region von Pedrogão Grande unweit von Leiria gingen damals - im Juni 2017 - um die Welt. Von den Flammen eingekesselte Autofahrer veröffentlichten erschütterende Live-Videos. Eine Landstraße wurde für knapp drei Dutzend Menschen zur Todesfalle, viele Opfer verbrannten in ihren Fahrzeugen bis zur Unkenntlichkeit. Tausende von Tieren starben elendig, Dutzende Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht.

Wissenschaftler bestätigten Zusammenhang mit Klimawandel

Wissenschaftler hätten bestätigt, dass der Klimawandel eine Rolle bei dieser Katastrophe gespielt habe, erklärt die Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network (GLAN), die die jungen Aktivisten beim Erstellen und Einreichen der Klageschrift unterstützte. Man müsse aber kein Experte sein, um die schlimmen Folgen des Klimawandels zu bemerken, sagt Catarina, die mit Claudia schon seit der Schulzeit eng befreundet ist. "Es gibt extreme und immer häufigere Hitzewellen. Das spüren wir in Portugal und ganz besonders in unserer Region, Leiria, sehr deutlich", sagt die 20-Jährige. Sie lebe nahe der Küste und könne selbst mit ansehen, wie die Eisschmelze in den Polarregionen den Meeresspiegel steigen lässt. "Außerdem gibt es immer mehr Menschen mit Atemwegserkrankungen. Wenn nichts getan wird, werden solche Krankheiten schreckliche Ausmaße annehmen."

Studien beschreiben Zukunft mit Klimawandel

Es gibt nicht nur Beobachtungen, sondern auch Zahlen, die eine deutliche Sprache sprechen. So führt die Hitzewelle in Lissabon im August 2018 laut GLAN zu einer Rekordtemperatur von 44 Grad. Und 2020 werde voraussichtlich das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen sein. Diese Tendenz muss auch und vor allem Kindern wie Mariana Sorgen bereiten. Wenn alles so bleibt wie bisher, sagen Prognosen einen Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperaturen um drei Grad bis zum Jahr 2100 voraus. Mariana wäre dann 88 Jahre alt. Für Portugal werden zu diesem Zeitpunkt Hitzewellen mit Temperaturen von über 40 Grad erwartet, die länger als einen Monat anhalten könnten.

Vorwurf: Verklagte Staaten verschärfen die Klimakrise

Umso wütender - und traurig zugleich - macht Mariana Agostinho die Tatenlosigkeit der meisten Erwachsenen. Ihr Bruder Martim (17) ist dennoch optimistisch. "Vielleicht sind wir wie Zwerge, die gegen Riesen kämpfen", sagt er. "Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Regierungen nur so viel Macht haben, wie wir ihnen geben." Den 27 EU-Staaten sowie Großbritannien, Norwegen, Russland, der Türkei, der Schweiz und der Ukraine werfen die jungen Portugiesen in der Klage vor, die Klimakrise verschärft zu haben und damit die Zukunft junger Generationen aufs Spiel zu setzen. Ziel der Klage: Der EGMR soll die 33 Länder dazu anhalten, ihre nationalen Klimaziele deutlich höher zu setzen sowie die von ihnen und ihren international tätigen Konzernen im Ausland verursachten Emissionen zu reduzieren.

GLAN bezeichnet die Klimaklage in Straßburg als "beispiellos".

Normalerweise müsse eine Person vor einem inländischen Gericht klagen, bevor sie einen Fall vor den EGMR bringen kann, erläutern die Anwälte der Klägerinnen und Kläger. Im Falle des Kampfes gegen den grenzübergreifend verursachten Klimawandel sei es für eine Gruppe von Heranwachsenden aber nicht möglich, ihr Anliegen in 33 verschiedenen Ländern vorzubringen und jeweils bis zu deren höchsten nationalen Gerichten zu verfolgen. Deshalb gehe man diesen bisher unbeschrittenen Pfad.

Ziel der Klage: Globale Vereinbarung zur Lastenverteilung

Der Hauptvorwurf der Kläger lautet: Es fehle ein global vereinbarter Ansatz zur Lastenteilung bei der Bekämpfung des Klimawandels. Das schaffe Unsicherheit über den "fairen Anteil" eines jeden Staates, die von manchen Ländern genutzt werde, um "eigennützige Interpretationen zu wählen". Der EGMR solle erzwingen, dass die EU sich als Ganzes verpflichtet, ihre Emissionen bis 2030 um mindestens 65% zu reduzieren. Nur so könne das angestrebte Ziel einer Erderwärmung von höchstens 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter erreicht werden.

Zwölfjähriger fordert Politik auf mehr zu tun 

André (12) aus Lissabon, der mit seiner Schwester Sofia Oliveira (15) bei der Klägergruppe dabei ist, hat bereits an zwei Klimademos teilgenommen. "Es ist ein so wichtiges und kompliziertes Thema, dass wir es nicht den Erwachsenen überlassen dürfen", sagt er - und lacht. Man müsse "schon in einer Phantasiewelt leben, um keine Angst zu haben". Was er Merkel gern persönlich sagen würde? "Ich würde mich bei ihr für all die Arbeit und Mühe bedanken - würde ihr dann aber sagen, dass nicht genug getan wird und uns die Zeit davonläuft."

Redaktion beck-aktuell, Emilio Rappold, 4. September 2020 (dpa).