Kinderrechte im GG: Experten diskutieren kontrovers

Um die Aufnahme expliziter Kinderrechte in das Grundgesetz ging es gestern in einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages. Die Experten begrüßten zwar überwiegend die Zielsetzung des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs, machten aber auch auf eine Reihe ihrer Meinung nach vorhandener Mängel aufmerksam.

Experten: Wichtige Aspekte der Kinderrechtskonvention verfassungsrechtlich absichern

Florian Becker von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verwies darauf, dass das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) ausdrücklich festgestellt habe, dass diese als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes herangezogen werden kann. Allerdings werde die völkerrechtskonforme Auslegung der Verfassung und des einfachen Rechts der Bedeutung der Kinderrechte bisweilen nicht gerecht. Einzelne besonders wichtige Aspekte der KRK könne man daher auch in den Rang von Verfassungsrecht heben. Auch nach Ansicht von Philipp Donath von der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt/Main) werden die Kernprinzipien der KRK in Deutschland nicht in allen Rechtsbereichen umgesetzt. Daher sollten die Kinderrechte im Grundgesetz sichtbar gemacht werden, die entsprechende Zielsetzung der Bundesregierung sei daher sinnvoll.

Kritik an der gewählten Verortung der Kinderrechte

Der vorgelegte Gesetzentwurf werde dem allerdings nicht gerecht und sei aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive teilweise bedenklich, so Donath weiter. So könnte durch die Aufnahme des ausdrücklichen Kindergrundrechts in das staatliche Wächteramt ein rechtssystematischer Fehler begangen werden. Auch der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, kritisierte die gewählte Verortung der Kinderrechte im Regierungsentwurf inmitten des staatlichen Wächteramts und der Elternrechte. Dies sei "misslungen und gefährlich" und könnte ein argumentativer Anknüpfungspunkt dafür sein, die Kinderrechte in unangemessener und gar nicht beabsichtigter Weise gegen die Eltern zu richten. Insgesamt sei der Regierungsentwurf ungeeignet, die Stellung von Kindern in der Praxis zu verbessern.

Kirchhof: Reformvorschlag gut fürs Kindeswohl

Anders sah dies Gregor Kirchhof von der Universität Augsburg. Er verwies auf die Entwurfsbegründung, wonach das "bestehende wohl austarierte Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat" nicht zu verändern und die "Elternverantwortung nicht zu beschränken" sei. Der Reformvorschlag diene so dem Kindeswohl. Er sei deshalb der beste Gesetzentwurf zu den Kinderrechten, der bisher in den Bundestag eingebracht worden sei. Er erfülle den heiklen verfassungspolitischen Auftrag, die Kinderrechte des Grundgesetzes "besser sichtbar" zu machen, ohne dabei das Verhältnis zwischen Kindern, Eltern und Staat zu verändern, so Kirchhof.

DAV bemängelt Formulierung

Thomas Mayen vom Deutschen Anwaltvereins befürwortete in seiner Stellungnahme zwar ausdrücklich die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz, jedoch nicht in der von der Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen Formulierung. Diese bleibe deutlich hinter den völkerrechtlich und europarechtlich verbürgten Rechten Minderjähriger zurück. Auch suggeriere der Entwurf durch die Verwendung des Begriffs der elterlichen "Erstverantwortung" einen Vorrang der Elternrechte nicht nur gegenüber dem staatlichen Wächteramt, sondern auch gegenüber dem Kindeswohl, was hinter der bestehenden Verfassungsrechtslage zurückbliebe, monierte der Anwaltverein.

UNICEF: Kinderrechte weitreichender als innerfamiliäres Verhältnis

Sebastian Sedlmayr von UNICEF Deutschland hält den Regierungsentwurf in seinen Grundzügen für geeignet, die Kinderrechte zu stärken. Er solle aber insgesamt prägnanter und kompakter sein. Unverzichtbar sei auch eine Formulierung zum Kindeswohl beziehungsweise den Interessen des Kindes, welche nicht hinter die Maßgaben und den Geist der KRK zurückfallen dürfe. Ferner sollte laut Sedlmayr auch die Verortung der Kinderrechte in den Grundrechtsartikeln des Grundgesetzes nochmals eingehend geprüft werden. Offensichtlich sei, dass eine Engführung der Kinderrechte auf das Verhältnis zu den Eltern dem kinderrechtlichen Rahmen nicht gerecht wird. Das Wesen der Kinderrechte gehe über das innerfamiliäre Verhältnis hinaus.

Verfassungsrichter: Vorlagen der Fraktionen weitergehend

Robert Seegmüller, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin, urteilte in seiner Stellungnahme, der Regierungsentwurf sei darum bemüht, lediglich die bisherige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung betreffend der Kinderrechte sichtbar zu machen. Größere inhaltliche Änderungen strebe er nicht an. Die Vorlagen der Fraktionen seien hier substantieller. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass die gewählten Formulierungen Ausgangspunkt für einen zukünftigen Verfassungswandel sein können, der das Verhältnis von Elternrecht und staatlichem Wächteramt aus seiner derzeitigen Balance bringt.

Expertin regt Verzicht auf Verfassungsänderung an

Friederike Wapler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vertrat die Meinung, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung in der vorliegenden Fassung nicht verabschiedet werden sollte. Er sei der schlechteste Vorschlag von allen. Denn er löse die selbst gesetzten Regelungsziele nicht ein, werfe mehr Fragen auf, als er beantworte, und bleibe hinter dem Stand der Diskussion zurück. Er scheine das bewährte verfassungsrechtliche Verhältnis von Eltern, Kindern und Staat zwar vordergründig zu bewahren, gefährde es in der Sache aber stärker als jede der alternativ vorgeschlagenen Formulierungen. Es könne durchaus auch eine Lösung sein, auf eine Verfassungsänderung zu verzichten, so die Expertin.

Redaktion beck-aktuell, 18. Mai 2021.