KI-Tool kontrolliert Anwaltsrechnungen: "Wie ein Taxifahrer ohne Taxameter"
Lorem Ipsum
© Jan-Eike Andresen

Großkanzleien berechnen Mandanten mitunter riesige Beträge für hunderte Stunden Arbeit. Die Rechnungen sind aber oft nicht korrekt, sagt myRight-Gründer Jan-Eike Andresen. Der Ex-Wirtschaftsanwalt hat ein KI-Tool gebaut, das falsche Rechnungen erkennen soll. Und bietet es Mandanten wie Kanzleien an.

beck-aktuell: Herr Andresen, Sie haben eine Software namens Laiyer entwickelt, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) Anwaltsrechnungen überprüfen soll. Bevor wir weiter darüber sprechen: Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen, Legal Tech zu entwickeln?

Andresen: Ich habe zunächst eine klassische Großkanzlei-Karriere begonnen, bevor ich zu Flightright gewechselt bin, wo ich zum ersten Mal IT-gestützte Rechtsberatung kennengelernt habe. Dann habe ich myRight und financialright mitgegründet, womit wir die Diesel- und Kartell-Sammelklagen möglich gemacht haben, die mehrfach auch den BGH beschäftigt haben. 2020 habe ich meine Anteile daran verkauft und mich Dingen gewidmet, die mich persönlich interessiert haben – darunter auch Laiyer.

beck-aktuell: Wer steht außer Ihnen hinter dem Projekt?

Andresen: Ich habe das Tool zusammen mit Enno Richter entwickelt, der kein Jurist, sondern Informatiker ist. Wir haben 2021 angefangen, mit Sprachmodellen zu experimentieren, im Sommer 2023 wurden wir dann ins InnoFinTech-Programm der Hamburger Förderbank IFB aufgenommen. Mittlerweile arbeiten fünf Programmierer an dem Projekt.

beck-aktuell: Was genau macht die Software denn nun?

Andresen: Sie können dort eine Rechnung hochladen und die Software erkennt anhand bestimmter Parameter, ob es in der Rechnung Hinweise auf Fehler, aus Sicht der Regulierung also klassische Non-Compliance-Bereiche, gibt. Sie trifft keine Aussage darüber, ob man die Rechnung bezahlen muss, aber sie sagt: Hier schlagen alle Indikatoren an, das solltest Du Dir nochmal ansehen. Diese Software wollen wir als Compliance-Tool sowohl Kanzleien als auch deren Mandantinnen und Mandanten anbieten.

beck-aktuell: Welche Parameter berücksichtigt die Software, die auf eine falsche Rechnung hindeuten?

Andresen: Da sind zum einen Duplikate, also Copy-and-paste-Elemente, außerdem klassischer Nonsens wie "Mandatsbearbeitung", hinter dem sich alles verbergen kann. Ein anderer Parameter ist das sogenannte "Block-Billing": Das bedeutet, dass ein Anwalt oder eine Anwältin mehrere Aufgaben über eine bestimmte Anzahl von Stunden im Block abrechnet, ohne dabei transparent zu machen, wie sich die Zeit darauf verteilt. Weitere Parameter sind Rechnungsposten, die keine Rechtsdienstleistungen sind, wie etwa Sekretariats-Aufgaben. Diese sind im anwaltlichen Stundensatz eingepreist und dürfen nicht gesondert abgerechnet werden. Und dann gibt es noch schlichte Rechenfehler.

"Bereich ist komplett unreguliert"

beck-aktuell: Sie sprechen von "Non-Compliance", also Regelverstößen. Das setzt aber voraus, dass es überhaupt Regeln gäbe, an die man sich als Kanzlei halten muss. Welche Regeln gibt es in Deutschland für anwaltliche Stundenabrechnungen?

Andresen: Gesetzlich ist dieser Bereich komplett unreguliert. Aber Bundesgerichtshof und Oberlandesgerichte haben mit der Zeit ein einigermaßen kohärentes Regelwerk aufgestellt. Hinzukommen "Billing Guides", die oft von angelsächsischen Mandanten vorgegeben werden und die detailliert regeln, wie der Anwalt zu berichten hat. Fehlerhafte Anwaltsrechnungen waren aber über Jahrzehnte auch eigentlich kein Problem, weil niemand sie als solche erkennen konnte. Das enge Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant nebst der Aura der anwaltlichen Unfehlbarkeit haben sicherlich auch nicht zu einer wirksamen Kontrolle durch Mandanten beigetragen. Das ist ähnlich wie bei den Dissertations-Plagiaten, die in den vergangenen Jahren vielen Politikerinnen und Politikern Probleme bereitet haben: Plötzlich kommt eine neue Technik auf den Markt und Dinge werden sichtbar, die vorher unsichtbar waren.

beck-aktuell: Die Kriterien, anhand derer die Software falsche Rechnungen erkennen soll, legen Sie also selbst fest?

Andresen: Ja und nein! Nein, weil wir natürlich die Rechtsprechung und Billing Guides zu Grunde legen. Aber auch ja, weil die Rechtsprechung vielfach Wertungen voraussetzt, die eine Maschine nur indikativ vornehmen kann. Wenn der BGH sagt, vielfach wiederholte Zeiteinträge seien inhaltsleer und damit bedeutungslos, müssen wir das in quantitative Elemente zerlegen und entscheiden: wie oft wurde wiederholt und ab wann ist wohl die Schwelle zur Intransparenz überschritten?  Wir beschreiben aber letztlich nur, was ist, und nehmen keine Wertung vor. Die Software sagt nicht: Diese Rechnung ist nicht korrekt, sondern benennt nur Auffälligkeiten.

beck-aktuell: Also handelt es sich streng genommen nicht um Fehler, welche die Software aufspürt, sondern nur um Merkmale, die nach Ihrer Einschätzung auf Fehler hindeuten?

Andresen: Genau, das sind alles nur Fehlerindikatoren. Diese zu finden macht aber in der Rechnungsprüfung praktisch 90% der Arbeit aus. Das alles selbst zusammenzutragen, ist eine echte Sisyphusarbeit. In den letzten 10% der Arbeit geht es dann darum, eine Wertung reinzubringen. Die wollen wir gar nicht treffen, das kann ein Mensch viel besser als eine Maschine.

"Nehmt das Thema ernst!"

beck-aktuell: Was mache ich als Mandant mit der Information, dass eine Rechnung, die ich bekommen habe, möglicherweise nicht korrekt ist?

Andresen: Ich schaue mir an, welche Bereiche ich selbst nicht akzeptabel finde. Dann gehe ich zu meinem Anwalt und teile ihm mit, dass ich diesen Teil der Rechnung aus Compliance-Gründen nicht bezahlen kann. Der Anwalt kann seine Rechnung dann natürlich ergänzen. Einen solchen Fall haben wir auch schon erlebt. Das Ergebnis war dann aber, dass die zweite Rechnung zu der vorherigen völlig widersprüchlich war. So etwas kann man mit der Software gut sichtbar machen. Deshalb sage ich Anwältinnen und Anwälten immer: Nehmt das Thema ernst und prüft die Rechnung mit der Software, bevor ihr sie rausschickt.

beck-aktuell: Man kommt aber doch um das Problem nicht herum, dass es schwer sein dürfte, einem Anwalt oder einer Anwältin nachzuweisen, was er oder sie in der berechneten Zeit tatsächlich getan hat. Helfen Mandantinnen und Mandanten die Auffälligkeiten, wenn am Ende eine Vergütungsklage kommt?

Andresen: Die Erfahrung zeigt, dass Vergütungsklagen oft auf wackeligen Beinen stehen. Bei der Frage des tatsächlichen Zeitaufwands ist der BGH sehr großzügig. Ob ein Anwalt oder eine Anwältin für eine Recherche ein oder zwei Stunden braucht, ist nicht überprüfbar. Aber gerade, weil man den Zeitaufwand kaum in Frage stellen kann, braucht man nach Ansicht des BGH eine vernünftige Dokumentation, welche die Abrechnung transparent und plausibel macht.

beck-aktuell: Woher stammt der Verdacht, dass bei der Rechnungsstellung so viel schiefläuft? Aus Ihrer eigenen Zeit in der Welt der Großkanzleien, die den Ruf haben, den "billable hours" allzu sehr hinterherzulaufen? Oder gibt es nur einzelne schwarze Schafe in der Branche?

Andresen: Ich würde nicht von schwarzen Schafen sprechen. Es ist nur einfach schwierig, gute anwaltliche Zeiteinträge zu formulieren, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Wenn ich dauernd in Telefonkonferenzen hänge und nebenher noch eine Fristsache habe, bin ich verleitet, Dinge erstmal pauschal aufzuschreiben. Das will man vielleicht am Freitag aufräumen, dann scheint aber die Sonne und alle Kolleginnen und Kollegen gehen in den Biergarten. Am Ende geht die Rechnung dann so raus. Das ist die Realität.

"Falsche Zeiteinträge sind gefährlich"

beck-aktuell: Sie glauben also nicht, dass manche Kolleginnen und Kollegen ihre Rechnungen aufhübschen?

Andresen: Nein. Ich glaube, wir haben vielmehr das generelle Problem, dass das Formulieren guter Zeiteinträge aufwändig und kognitiv herausfordernd ist und in der täglichen Mandatsarbeit oft hinten runterfällt. Wenn ein Mandant nicht bedient wird, dann macht er bald Alarm; wenn Sie bei Gericht einen falschen Schriftsatz einreichen, haben Sie am nächsten Tag eine Riesen-Baustelle.

Falsche Zeiteinträge sind deshalb so gefährlich, weil sie zunächst keinen Krach machen. Die melden sich erst nach Monaten, dann aber mit einem großen Knall. Deshalb bieten wir Anwältinnen und Anwälten ein sofortiges Feedback zu ihrer Rechnung, um kein verborgenes Risiko einzugehen.

beck-aktuell: Trotzdem könnte man sich mit mangelnder Transparenz abfinden, wenn man davon ausginge, dass alle nach bestem Wissen und Gewissen abrechnen.

Andresen: Es sind aus meiner Sicht zwei Punkte, die hier eine Rolle spielen. Der erste kommt ins Spiel, wenn es nicht das eigene Geld ist, das man den Kanzleien überweist, etwa beim Leiter oder der Leiterin einer Rechtsabteilung. Die Zahlung sachlich unzureichend geprüfter Rechnungen ist ein Musterbeispiel für Untreue – erst recht, wenn man in Kenntnis fehlerhafter Rechnungen zahlt oder seine Augen bewusst verschließt. Es gibt daher ein eigenes Interesse, Abrechnungen jenseits des Betrags in Ordnung zu bringen. Und Anwaltsrechnungen sind in der Regel die größeren Rechnungsposten, die Archivdauer beträgt 10 Jahre. Das kann einem in der Karriere irgendwann um die Ohren fliegen – wie die bereits genannten Plagiate.

Zum anderen ist das, was Sie sagen, nichts anderes als ein Pauschalhonorar. Damit könnte man sich die ganzen Zeiteinträge sparen. Aber Anwältinnen und Anwälte wollen meist gar nicht mit Pauschalen arbeiten, da ihnen das wirtschaftliche Risiko zu groß ist. Mit dem Zeithonorar dagegen haben sie keinerlei Risiko, es setzt aber voraus, dass der Zeitaufwand auch ordnungsgemäß dokumentiert wird. Im Taxi verlangen wir auch ein Taxameter.

beck-aktuell: Wie weit ist das Projekt gegenwärtig, verkaufen Sie es bereits?

Andresen: Wir sind derzeit mit einer Beta-Version im Testbetrieb bei verschiedenen größeren Unternehmen. Das sind typischerweise Unternehmen, die besonders Compliance-getrieben sind. Daneben installieren wir das System gerade in einer Juve "Top 100" Kanzlei. Außerdem bauen wir gerade eine Integration in verschiedene Anwaltssoftwares, wo Laiyer dann im Hintergrund mitlaufen wird. Dann kann auch jeder Anwalt Laiyer nutzen, zum Jahresende soll es soweit sein.

"Risiko von 2,4 Milliarden Euro"

beck-aktuell: Ist ihr Tool auf Seiten der Mandantschaft nur etwas für große Unternehmen oder ist es auch für Einzelpersonen geeignet, die eine Anwaltsrechnung prüfen wollen?

Andresen: Unser Fokus liegt ganz klar auf compliancegetriebenen Unternehmen, was zunächst Kanzleien selbst sind, aber auch Versicherungen, die öffentliche Hand und regulierte Industrien wie Banken und Investmentgesellschaften. Bei Einzelpersonen spielt Compliance meist keine große Rolle: Wenn dort Preis und Leistung stimmen, interessiert sich niemand mehr für die Stundenabrechnung, zumal man dort auch sein eigenes Geld ausgibt.

beck-aktuell: Sie haben mit dem Vergleich zur Plagiatssoftware einen umwälzenden Effekt neuer Technik angesprochen. Glauben Sie, dass Sie mit ihrem Tool den Rechtsmarkt nachhaltig verändern werden?

Andresen: Ich glaube nicht, dass es die anwaltliche Arbeit verändern wird. Aber ich bin mir sicher, dass alle großen Kanzleien in den nächsten drei Jahren Laiyer oder ein anderes vergleichbares Produkt einführen werden. Schauen Sie: Die Top-100 Kanzleien machen pro Jahr circa 8 Milliarden Euro Umsatz. Wenn man nun davon ausgeht, dass nur 10% der Zeiteinträge fehlerhaft sind – und es sind tatsächlich deutlich mehr –, dann macht das 800 Millionen, bei drei Jahren Verjährungsfrist also ein Risiko von 2,4 Milliarden Euro. Als Kanzlei wollen Sie dieses Risiko sehen, steuern und beseitigen. Ab nächstem Jahr wird die elektronische Rechnungsstellung Pflicht, immer mehr Mandanten nutzen E-Billing-Tools. Die Aufdeckung fehlerhafter Zeiteinträge wird die Norm werden.

beck-aktuell: Glauben Sie, dass Kanzleien ausschließlich erfreut sein werden oder haben Sie Sorge, dass die Begeisterung über so viel Transparenz sich eher in Grenzen halten könnte?

Andresen: Mir geht es darum, dass diejenigen, die bis in die Nacht für ihre Mandantinnen und Mandanten hart arbeiten und keine Zeit haben, vernünftige Zeiteinträge zu schreiben, im Zweifel als Erstes auf den Deckel bekommen. Das schreit doch danach, Tools einzusetzen, die schlechte Zeiteinträge erkennen.

beck-aktuell: Das mögen Sie so sehen, aber glauben Sie auch, dass es in der Branche so ankommt?

Andresen: Ich denke, dass wir eine Diskussion darüber bekommen werden, wie Zeiteinträge gestaltet sein müssen. In den USA gibt es sehr genaue "billing guides", hier in Deutschland ist viel der Rechtsprechung überlassen. Wir machen den Graubereich sichtbar und geben Anwältinnen und Anwälten die Möglichkeit, im Sinne ihrer Mandantinnen und Mandanten für korrekte Rechnungen zu sorgen. Was sie am Ende daraus machen, darin haben wir keine Aktien.

beck-aktuell: Herr Andresen, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Maximilian Amos.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 23. April 2024.