Kondom heimlich abgestreift
Ein Schöffengericht am Amtsgericht Tiergarten hatte im konkreten Fall einen inzwischen 38-jährigen Bundespolizisten am 11.12.2018 wegen sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ferner hat es den Angeklagten verurteilt, an die Geschädigte, welche im Verfahren als Nebenklägerin zugelassen war, eine Schmerzensgeld- und Schadensersatzzahlung in Höhe von insgesamt 3.095,59 Euro zu leisten. Die Richter hatten in der ersten Instanz festgestellt, dass es im November 2017 bei einem Treffen des Angeklagten mit einer damals 20 Jahre alten Polizeimeisteranwärterin, welche er zuvor auf einer Internetplattform kennengelernt hatte, zunächst einvernehmlich zu sexuellen Handlungen gekommen sei. Vor dem eigentlichen Geschlechtsverkehr habe die Nebenklägerin jedoch mehrfach deutlich und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie auf keinen Fall Geschlechtsverkehr ohne Kondom haben wolle. Daraufhin habe der Angeklagte vor dem Eindringen ein Kondom über seinen Penis gezogen. Während des Geschlechtsakts habe der Angeklagte dann jedoch das Kondom im Zuge eines Stellungwechsels heimlich abgestreift und schließlich in die Vagina der Geschädigten ejakuliert.
Angeklagter begehrte Freispruch
In der Berufungsinstanz beim Landgericht Berlin hatte der Angeklagte seine Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, die Feststellungen des AG in erster Instanz also quasi anerkannt. Im Ergebnis wurde die Bewährungsstrafe auf sechs Monate reduziert. Gegen dieses Urteil des LG Berlin hat der Angeklagte dann jedoch Revision zum KG eingelegt. Die Beschränkung seiner Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch sei unwirksam gewesen, weil sein vom AG Tiergarten festgestelltes Verhalten nicht strafbar sei. Er begehrte einen Freispruch.
Auch über das Wie entscheidet jeder selbst
Der zuständige Strafsenat des KG hat daraufhin in der Revisionsinstanz entschieden, dass die Rechtsmittelbeschränkung wirksam war und auch die rechtliche Einordnung des AG Tiergarten in der Vorinstanz korrekt war. Die Urteilsfeststellungen des Amtsgerichts trügen den Schuldspruch des sexuellen Übergriffs (§ 177 Abs. 1 StGB), denn der Angeklagte habe im Sinn dieser Bestimmung eine sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin an dieser vorgenommen. Das von § 177 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung beinhalte die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. Nach dem Schutzzweck der Norm könne der Rechtsgutsinhaber somit nicht nur darüber entscheiden, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden solle, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden sei, erläuterte das Gericht.
Strafrechtliche Bedeutung des entfernten Kondoms
Die Tatbestandsmäßigkeit liege jedenfalls in einem Fall vor, in dem der Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf dieses ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in den Körper des beziehungsweise der Geschädigten ejakuliert. Jedenfalls dann, wenn der gegen den Opferwillen ungeschützt vorgenommene Geschlechtsverkehr – wie hier – bis zum Samenerguss in der Vagina der Geschädigten vollzogen werde, weise das Verhalten des Täters im Vergleich zum konsentierten Verkehr mit Kondom eine andere (sexualstraf-)rechtliche Qualität von strafbarkeitsbegründender Erheblichkeit auf, sodass dieser Geschlechtsverkehr als tatbestandsmäßige sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB anzusehen sei.
Sexuelle Autonomie des Opfers verletzt
Hierbei sei der vom Opfer in Ausübung seiner umfassend geschützten sexuellen Autonomie geforderte Schutz durch ein Kondom nicht nur hinsichtlich der Verhinderung von Schwangerschaft und Krankheiten von Bedeutung, so das KG. Vielmehr manifestiere sich das tatbestandliche Unrecht auch und gerade auf der Ebene des sexuellen Selbstbestimmungsrechts in einer Verletzung der sexuellen Autonomie des Opfers, weil dieses mit der Tatsache konfrontiert werde, unter – rechtserheblicher (vgl. § 184h Nr. 1 StGB) – Verletzung seiner freien sexuellen Selbstbestimmung von dem penetrierenden Sexualpartner bewusst zu einem bloßen Objekt fremdbestimmten sexuellen Tuns herabgesetzt und für dessen persönliche sexuelle Befriedigung benutzt worden zu sein. Das Unrecht des Täterverhaltens besitze somit auch eine auf das Schutzgut des § 177 Abs. 1 StGB bezogene Demütigungs- und Instrumentalisierungsdimension. Auch vor einer solchen sexuellen Fremdbestimmung durch die andere Person solle § 177 StGB den Rechtsgutsträger schützen.
"Stealthing" kann künftig im Einzelfall auch als Vergewaltigung gewertet werden
Das KG wies darauf hin, dass es als erstes Oberlandesgericht über die Frage der Strafbarkeit des Stealthings zu befinden hatte. Mit dem Beschluss sei noch keine Entscheidung darüber gefallen, wie das sogenannte Stealthing zu beurteilen wäre, wenn es zu keiner Ejakulation kommt. Abschließend merkte der Senat an, dass im konkreten Fall trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB kein besonders schwerer Fall (und damit im Schuldspruch keine Vergewaltigung) ausgesprochen werden konnte, weil eine Schuldspruchänderung im Revisionsrechtszug in dieser Konstellation rechtlich nicht in Betracht komme. Im Einzelfall könnte das sogenannte Stealthing aber künftig auch als Vergewaltigung gewertet werden.