"Keine Geheimverfahren mehr"
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Vor dem Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen eine Äußerung muss das Gericht die Gegenseite anhören – auch wenn es keine mündliche Verhandlung durchführt. Mit dieser Begründung hat das Bundesverfassungsgericht per einstweiliger Anordnung einen Beschluss des Landgerichts Berlin aufgehoben. Darin ging es um einen Streit zwischen zwei Polizeigewerkschaften.

Der heute veröffentlichte Beschluss aus Karlsruhe vom 03.06.2020 (Az.: 1 BvR 1246/20) verlangt "prozessuale Waffengleichheit", die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz ergebe, sowie aus dem "Gehörsgrundsatz" (Art. 103 I GG). "Das Gericht muss den Parteien die Möglichkeit einräumen, alles für seine Entscheidung Erhebliche vorzutragen und zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderliche Verteidigungsmittel selbstständig geltend zu machen", formuliert die 2. Kammer des Ersten Senats. Somit sei der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, darauf Einfluss zu nehmen. Entbehrlich sei eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen, wenn diese den Zweck der einstweiligen Verfügung vereiteln würde.

Mehrere Rüffel fürs Landgericht

Diesen Anforderungen sei das Landgericht "offenkundig" nicht gerecht geworden, schelten die Verfassungsrichter die Berliner Instanz. Sie hatte auf Antrag der GdP ihrer Konkurrentin DPolG zwei Aussagen zur Durchführung von Personalratswahlen bei der Bundespolizei nach Ausbruch der Corona-Pandemie verboten. Die GdP hatte die DPolG zunächst außerprozessual abgemahnt und diese darauf erwidert. Der anschließende Antrag der GdP beim LG reagierte jedoch auf verschiedene Einwände aus dem Erwiderungsschreiben der DPolG und ging damit über die Abmahnung hinaus. „Die gebotene Kongruenz des der Entscheidung zugrundeliegenden Antrags zur vorprozessualen Abmahnung war damit ersichtlich nicht gegeben“, tadelt das BVerfG. Erst recht gelte dies infolge der zwischenzeitlichen Modifikation des Unterlassungsbegehrens durch den Hilfsantrag. Dem hatte das Landgericht zwei Wochen später stattgegeben – insoweit sogar ohne Begründung.

Ein weiterer Rüffel aus Karlsruhe: In Fällen einer ausnahmsweise ohne Einbeziehung der Gegenseite erlassenen einstweiligen Verfügung bestehe im Gegenzug eine besondere Obliegenheit, die mündliche Verhandlung zeitnah anzuberaumen. Auch dem sei das Landgericht durch die Anberaumung auf den Monat Juli – knapp zwei Monate nach dem Widerspruch der DPolG gegen die einstweilige Verfügung – nicht gerecht geworden. Das sei auch während der Corona-Eindämmungsmaßnahmen nicht zu rechtfertigen gewesen.

"Erhebliche Bedeutung und Tragweite"

Als "Paukenschlag aus Karlsruhe" feierte die Kölner Kanzlei Höcker ihren Sieg. „Geheimverfahren sind verfassungswidrig", schrieb ihr Anwalt Dr. Christian Conrad in einer Pressemitteilung: "Das hat das BVerfG nun erneut mit deutlichen Worten bestätigt und diesen damit endgültig den Riegel vorgeschoben.“ Der Düsseldorfer Anwalt Oliver Löffel aus der Kanzlei Löffel Abrar misst der Entscheidung des BVerfG ebenfalls eine "erhebliche Bedeutung und Tragweite" zu. Gerichte müssten den Antragsgegner in einstweiligen Verfügungsverfahren nun noch häufiger anhören als bisher, schreibt er in seinem Blog. Zudem beste wohl viel häufiger als bislang angenommen die Möglichkeit, beim BVerfG einen erfolgreichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die einstweilige Verfügung eines Zivilgerichts zu stellen, wenn die prozessuale Waffengleichheit in einem einstweiligen Verfügungsverfahren verletzt wurde.

BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 - 1 BvR 1246/20

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 5. Juni 2020.

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