Keine Entschädigung für Angehörige von Opfern des Kunduz-Luftangriffs
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Hinterbliebene der Opfer des Luftangriffs in Kunduz, der im Jahr 2009 von einem Oberst der Bundeswehr angeordnet worden war, sind mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die zivilgerichtliche Versagung von Amtshaftungsansprüchen gegen die Bundesrepublik Deutschland gescheitert. Mit einem jetzt veröffentlichten Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde der Angehörigen nicht zur Entscheidung angenommen.

Zivilisten getötet und verletzt

Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die Abweisung ihrer Amtshaftungsklagen durch die Zivilgerichte, letztinstanzlich durch den Bundesgerichtshof. Der Deutsche Bundestag beschloss am 22.12.2001 die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den ISAF-Truppen (International Security Assistance Force). Am 03.09.2009 bemächtigte sich eine Gruppe von Taliban-Kämpfern zweier Tanklastwagen in Kunduz. Als der zuständige Oberst i. G. die Information über die Entführung der Tanklastwagen erhielt, forderte er Luftunterstützung durch zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge an. Ihm wurde durch einen Informanten des Militärs mehrfach bestätigt, dass sich bei den Lastwagen lediglich Aufständische und keine Zivilisten befänden, worauf er den Befehl zum Bombenabwurf gab. Hierdurch wurden beide Tanklastwagen zerstört sowie zahlreiche Personen, darunter auch Zivilisten, getötet oder verletzt.

Schmerzensgeld und Schadensersatz gefordert

Die Beschwerdeführer erhoben Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und begehrten als Angehörige von getöteten Opfern Schmerzensgeld und Schadenersatz. Der BGH wies mit Urteil vom 06.10.2016 ihre Revision insbesondere mit der Begründung zurück, dass sich aus dem Völkerrecht kein individueller Schadenersatzanspruch ableiten lasse und das deutsche Amtshaftungsrecht (§ 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) auf Schäden keine Anwendung finde, die ausländischen Bürgern bei einem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte zugefügt werden. Darüber hinaus liege auch keine Amtspflichtverletzung des zuständigen Oberst i. G. vor.

Fremde Staatsangehörige ohne Ansprüche aus Völkerrecht

Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist nach Ansicht des BVerfG, dass der BGH Entschädigungs- und Ersatzansprüche unmittelbar aus dem Völkerrecht verneint hat. Sekundärrechtliche Ansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stünden grundsätzlich nur dem Heimatstaat des Geschädigten als originärem Völkerrechtssubjekt zu. Es bestehe keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach welcher dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auch Ansprüche auf Schadenersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat zustehen müssten. Insbesondere würden weder Art. 3 des IV. Haager Abkommens noch Art. 91 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 08.06.1977 individuelle Schadenersatz- oder Entschädigungsansprüche bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht begründen.

Keine Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung

Die Verneinung von Ansprüchen aus enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung begegne ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Beide Rechtsinstitute würden durch die Rechtsprechung für Sachverhalte des alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt und seien auf Kriegsschäden, die nicht Folge regulärer Verwaltungstätigkeit sind, nicht anwendbar.

Zweifel an genereller Verneinung von Amtshaftungsansprüchen

Nicht ausgeschlossen erscheine dagegen, dass der BGH die Bedeutung und Tragweite der Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG verkannt habe, als er Amtshaftungsansprüche (§ 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) als Folge von Einsätzen der Bundeswehr im Ausland generell verneint hat. Angesichts der grundsätzlichen Bindung aller deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte, die auch bei Handlungen im Ausland bestehe, begegne das Urteil insoweit Zweifeln. Die Haftung für staatliches Unrecht sei nicht nur eine Ausprägung des Legalitätsprinzips, sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die den zentralen Bezugspunkt für staatliche Einstandspflichten bildeten. Die Grundrechte schützten nicht nur vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürger und seien insoweit Grundlage von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen, die die Integrität der grundrechtlichen Gewährleistungen sicherstellen. Wo dies nicht möglich sei, ergäben sich aus ihnen – und nicht allein aus dem auf einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden einfachen Recht – grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadenersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen. Eine derartige Rückbindung der staatlichen Unrechtshaftung sei heute ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im europäischen Rechtsraum. Dies werde schon wegen des Vorrangs der Verfassung durch die vom BGH angeführten Gründe, die gegen eine Anwendung des Amtshaftungsrechts auf Auslandseinsätze der Bundeswehr sprechen könnten, insbesondere die Beeinträchtigung der internationalen Bündnisfähigkeit Deutschlands und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, nicht in Frage gestellt.

Amtspflichtverletzung konkret beanstandungsfrei ausgeschlossen

Im Ergebnis sei das Urteil des BGH gleichwohl nicht zu beanstanden, so das BVerfG, da er entscheidungstragend auch das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung des zuständigen Oberst i. G. verneint hat. Ob in einem bewaffneten Konflikt eine Amtspflichtverletzung deutscher Soldaten vorliege, bemesse sich nach der Verfassung, dem Soldatengesetz und vor allem den gewaltbegrenzenden Regeln des humanitären Völkerrechts. Nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen stelle auch einen Verstoß hiergegen dar. Ein solcher ist nach dem Urteil nicht deshalb gegeben, weil vor dem Befehl zum Bombenabwurf nicht habe ausgeschlossen werden können, dass sich im Zielgebiet auch Zivilisten aufhielten. Der Oberst i. G. der Bundeswehr habe bei Erteilung des Angriffsbefehls die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, bei der notwendigen Ex-ante-Betrachtung eine gültige Prognoseentscheidung getroffen und somit keine Amtspflichtverletzung begangen. Diese Würdigung sei nachvollziehbar und verstoße jedenfalls nicht gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG.

BVerfG, Beschluss vom 18.11.2020 - 2 BvR 477/17

Redaktion beck-aktuell, 16. Dezember 2020.