Die Europäische Kommission hat heute die zwölfte Ausgabe des EU-Justizbarometers veröffentlicht. Der Jahresüberblick vergleicht die Justizsysteme der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit. Im Vergleich zum Vorjahr habe sich die öffentliche Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz verbessert, hieß es von der Kommission – auch in Ländern, die mit systembedingten Herausforderungen konfrontiert seien.
Schwerpunkte des diesjährigen Reports waren die Digitalisierung der Justiz sowie der Zugang zum Recht und die empfundene Unabhängigkeit von Gerichten. Dazu hat die Kommission Befragungen durchgeführt und Statistiken aus allen Mitgliedstaaten verglichen, etwa zu Eingangs- und Erledigungszahlen am Gericht. Außerdem hat sie die Regularien und Prozessordnungen der einzelnen EU-Staaten etwa im Hinblick auf ihre Technologie-Offenheit ausgewertet.
Die wichtigsten Ergebnisse: Europaweite Verbesserungen
Die Öffentlichkeit nehme die Justiz als unabhängiger wahr als noch in den Jahren zuvor, heißt es im Kommissionsbericht. Die öffentliche Wahrnehmung habe sich seit 2016 in 19 Mitgliedstaaten verbessert oder sei stabil geblieben. Das sei auch in Ländern der Fall, die hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz mit systembedingten Herausforderungen konfrontiert seien, vor allem in Ungarn und Polen.
Besonders die Unabhängigkeit von Staatsanwälten lobte der Bericht: In 14 Mitgliedstaaten würden die Staatsanwälte entweder von einem unabhängigen Staatsanwaltsrat oder der Staatsanwaltschaft selbst ernannt. Die Befugnis der Exekutive (entweder des Justizministers, der Regierung oder des Staatsoberhaupts), Staatsanwälte zu ernennen, unterliege in fast allen Fällen einer gerichtlichen Überprüfung.
Das größte Verbesserungspotenzial sehen die Macher der Studie im Bereich Digitalisierung. Nur sechs Mitgliedstaaten verfügten über Verfahrensvorschriften, nach denen Beweismittel in digitaler Form in Zivil-, Handels-, Verwaltungs- und Strafsachen zulässig seien. Darüber hinaus bestehe noch Verbesserungsbedarf bei der Möglichkeit, online ein Verfahren einzuleiten oder eine Klage einzureichen.
Schließlich lobte die Kommission, dass fast alle Mitgliedstaaten inzwischen Regelungen eingeführt hätten, die Menschen mit Behinderung den Zugang zum Recht und zu den juristischen Berufen ermöglichten und dafür Sorge trügen, dass Kinder im Prozess bestmöglich begleitet würden.
Deutschland: Spitzenreiter beim Verbraucherschutz – aber auch bei den Kosten
Die deutsche Justiz schneidet im europäischen Vergleich ganz unterschiedlich ab. So liegt Deutschland etwa im Bereich der Klageeingänge auf Platz vier bei den Verwaltungsverfahren, aber auf Platz 18 bei den Zivilverfahren. Auffällig: Obwohl die hiesige Verfahrensdauer häufig kritisiert und sogar als Erklärung für den stetigen Rückgang der Zivilklagen angeführt wird, liegt Deutschland bei der Verfahrensdauer tatsächlich im europäischen Mittelfeld. Viele Staaten, darunter Dänemark, Frankreich oder Italien brauchen weit länger für ihre Erledigungen. Deutschland hat zudem vergleichsweise wenig anhängige Zivilverfahren, ist dafür im europäischen Vergleich aber Spitzenreiter bei den anhängigen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten.
Ganz vorne ist Deutschland auch beim Verbraucherschutz. Die Kommission untersucht in ihrem Bericht auch, welche besonderen Regelungen für repräsentative Klagen zum Schutz der kollektiven Verbraucherinteressen die Länder eingerichtet haben. Dabei steht die Bundesrepublik gut da: So gibt es spezifische Schulungen von Richterinnen und Richtern, Unterstützung für qualifizierte Einrichtungen sowie Informationsangebote. Auch die Verfügbarkeit spezifischer öffentlicher Online-Register für repräsentative Klagen lobte die Kommission.
Obwohl Deutschland von allen EU-Ländern am häufigsten versucht, auf außergerichtliche Konfliktlösungen hinzuwirken, führt es auch noch in einer anderen Hinsicht die Statistik an: Von allen Staaten gibt Deutschland mit am meisten für Gerichte aus, nämlich knapp 200 Euro pro Einwohnerin, bzw. Einwohner. Und die Kosten steigen seit Jahren, wie die Statistik zeigt. Noch mehr gibt nur Luxemburg für seine Gerichte aus.
Privatpersonen bewerten deutsche Gerichte besser
Bei der Anzahl der Richterinnen und Richter stagniert die deutsche Zahl seit einigen Jahren im europäischen Mittelfeld bei knapp 25 pro 100 Einwohnerinnen, bzw. Einwohner. Laut Statistik sind dabei weniger als 40% der Rechtsprechenden an Bundesgerichten Frauen.
Die Gerichte in Deutschland werden weit überwiegend (80%) als unabhängig wahrgenommen. Anders sieht die Statistik hier vor allem in Ungarn, Polen und in Belgien aus. Jedoch bewerteten befragte Unternehmen die deutschen Gerichte schlechter als Einzelpersonen. Sie hielten sie seltener für unabhängig, noch seltener für effektiv, und monierten, dass der Staat Druck auf Gerichte ausübe. Insgesamt hielten immerhin noch knapp 60% der Unternehmen deutsche Gerichte für effektiv oder überwiegend effektiv.
Schwerpunkt Digitalisierung: Noch Luft nach oben
Seit 2021 enthält der EU-Justizanzeiger einen großen, ausführlichen Abschnitt zur Digitalisierung der Justiz. Obwohl die Mitgliedstaaten bereits digitale Lösungen in verschiedenen Kontexten und in unterschiedlichem Maße nutzen, gibt es noch viel Raum für Verbesserungen, heißt es von der Kommission.
Beispielsweise stellten 26 Mitgliedstaaten deutlich sichtbare und verständliche Informationen über Prozesskostenhilfe zur Verfügung, doch nur sechs verfügten über digitalfähige Verfahrensvorschriften, welche die Nutzung von Fernkommunikation und Beweismittel in ausschließlich digitaler Form erlaubten.
Insbesondere zeige die Statistik, dass die Mitgliedstaaten das in ihren Verfahrensvorschriften vorgesehene Potenzial nicht voll ausschöpften, so die Bewertung des Kommissionsberichts. Gerichte und Staatsanwaltschaften verfügten bereits über verschiedene digitale Hilfsmittel, nutzten sie aber häufig nicht – selbst wenn die Gerichts- und Verfahrensordnungen dies zuließen.
Digitalisierung: Deutschland steht gut da
Obwohl sich in der rechtspolitischen Debatte viele mehr wünschen: Im europäischen Vergleich steht Deutschland in Sachen Digitalisierung recht gut da. Die Kommission hat etwa untersucht, welche Staaten Online-Informationen über das Justizsystem für die breite Öffentlichkeit bereitstellen, welche digitalen Tools zur Verfügung stehen und wie sie genutzt werden.
Die Studie kam zu dem Schluss, dass Deutschland Chatbots zur Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger bei der Suche nach Informationen über das Justizsystem einsetze und auch Angebote für Nicht-Muttersprachler habe. Außerdem stelle Deutschland transparente digitale Informationen zu Gerichtsgebühren und Prozesskostenhilfe zur Verfügung. Die Bürgerinnen und Bürger würden gut über Ihre Verfahrensrechte informiert.
Zudem seien die Rahmenbedingungen der deutschen Prozessordnungen beim Thema Digitalisierung ausreichend und auch bei der Nutzung von digitalen Tools und elektronischer Kommunikation schneidet Deutschland laut Barometer gut ab. Das gilt keineswegs für alle EU-Staaten. Auch sonstige Online-Dienste, wie etwa das digitale Bezahlen von Gerichtskosten oder ein digitaler Antrag auf Prozesskostenhilfe seien in Deutschland etablierter als in anderen Staaten. Bei der Zahl der online veröffentlichten Urteile ist Deutschland wiederum nur im Mittelfeld, besonders schlecht steht es um die Veröffentlichung von erstinstanzlichen Urteilen.
EU stellt 300 Millionen Euro fürs Recht zur Verfügung
Die Ergebnisse des jährlichen EU-Justizbarometer tragen laut Kommission zum Monitoring im Rahmen des Europäischen Semesters und des jährlichen Zyklus‘ der Rechtsstaatlichkeit bei. Sie fließen auch in ihren Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2024 ein.
Im Rahmen des Programms „Justiz“ 2021-2027 will die EU zudem über 305 Mio. Euro für die Weiterentwicklung eines europäischen Rechtsraums bereitstellen. „Dies wird auch dazu beitragen, die Wirksamkeit der nationalen Justizsysteme zu verbessern und die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und den Schutz der Grundrechte zu stärken“, heißt es in der Ankündigung der Kommission.