Justiz in den sozialen Medien: Die Angst vor dem tanzenden Richter
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Sollten Richterinnen und Richter ihre Urteile bürgernah auf TikTok erklären? Diese Vorstellung erfüllt viele mit Unbehagen. Obwohl soziale Medien ein Weg sein könnten, das Vertrauen in die Justiz zu stärken, gibt es bisher kaum Konzepte. Ein Vorbild aus dem Norden könnte aber Schule machen.

BGH-Präsidentin Bettina Limperg hat die Einstellung vieler deutscher Richterinnen und Richter zur Sichtbarkeit der Justiz in den sozialen Medien auf den Punkt gebracht: "Wir dürfen nicht peinlich sein", sagte sie auf der Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs 2024 in München. 

Aber ist die Furcht vor dem tanzenden TikTok-Richter begründet? Oder zeugt diese Vorstellung eher von mangelnder Erfahrung mit Social Media und Vorurteilen? beck-aktuell hat sich in verschiedenen Gerichtsbezirken umgehört, um ein Bild davon zu bekommen, wie die deutsche Justiz zum Thema Social Media steht. Und auch die Pressesprecherinnen und -sprecher aus den OLG-Bezirken in ganz Deutschland diskutieren bei ihren regelmäßigen Treffen immer wieder Fragen wie: Wieviel Social-Media-Präsenz tut der Justiz gut? Wie sollten Inhalte aussehen? Und: Wie macht ihr es denn?

Ganzheitliche Social-Media-Konzepte gibt es indes bislang kaum. Die justizielle Öffentlichkeitsarbeit in den mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Medien ist – das verrät schon ein Blick in selbige – eher überschaubar. Die meisten Gerichte haben keine eigene Präsenz, die Oberlandesgerichte posten dann und wann Pressemitteilungen, doch sonst tut sich meist wenig. So sind es eher Einzelpersonen, die über ihren Beruf sprechen oder aktuelle Rechtsprechung ihres Gerichts(-bezirks) verbreiten.

Gründe gibt es genug

Doch warum sollten Gerichte überhaupt Social-Media-Präsenzen haben? Zunächst wäre da eine naheliegende Funktion: Die Kommunikation ihrer Entscheidungen. Schon heute veröffentlichen Gerichte Pressemitteilungen über ausgewählte Entscheidungen mit prominenter Beteiligung, aber auch über solche, die juristisch besonders bedeutsam, verbraucherrelevant oder vielleicht auch einfach nur amüsant sind. Viele dieser Mitteilungen schaffen es nicht nur in Fachmedien wie beck-aktuell, sondern auch zu ARD, FAZ und Co. Der Grund liegt nahe: Die Menschen finden die Justiz spannend. Das zeigen nicht nur die Klickzahlen und verkauften Zeitungsexemplare, sondern auch lebhafte öffentliche Diskussionen über Einzelfälle. 

Doch genau hier liegt auch ein Problem. Denn die Justiz und der Rechtsstaat erleben seit Jahren einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung. In Umfragen äußern viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, die Justiz mit ihren langen Verfahren und mutmaßlich laschen Urteilen komme ihrer Aufgabe nicht mehr nach – darunter leidet die Akzeptanz des Rechts insgesamt. Doch wenngleich auch reißerische Berichterstattung in klassischen Medien ihren Anteil an dieser Entwicklung haben mag, so sind doch die sozialen Medien die Katalysatoren, die der Diskussion eine Eigendynamik verleihen. 

Solchen Dynamiken entgegenzuwirken und stattdessen fundiert über Urteile zu informieren, könnte ein Ziel für die Justiz sein, deren Existenzgrundlage das Vertrauen in sie ist. Gleichzeitig sind Unkenntnis über die Arbeit der Gerichte und fehlende Berührungspunkte mit den meisten Bürgerinnen und Bürgern ein Nährboden für eben solche Dynamiken. Eine Justiz, die bürgernah kommuniziert und Transparenz über ihre Arbeit schafft, könnte dem präventiv entgegenwirken.

Und einen zusätzlichen Vorteil könnte erfolgreiche Social-Media-Arbeit in den Gerichten auch haben: Sie könnte dem Nachwuchsmangel in der Justiz abhelfen. Will man junge Menschen für Jobs in der Justiz begeistern, bietet es sich an, ein wenig mehr Präsenz dort zu zeigen, wo sie sich gewöhnlich herumtreiben.

"Einen großen Teil der Bevölkerung erreichen wir sonst nicht"

Diese Einsichten sind nicht neu, doch haben sie noch nicht dazu geführt, dass in vielen Gerichtsbezirken durchdachte Konzepte für eine moderne Medienarbeit entstanden wären. "Unsere Bemühungen sind da noch sehr übersichtlich", gibt beispielsweise Laurent Lafleur zu, Pressesprecher des OLG München. Viele Pressesprecherinnen und -sprecher sehen sich – wie Lafleur – als aktive Vermittler zwischen Justiz und Öffentlichkeit, doch auch sie fremdeln mitunter mit der Welt jenseits der klassischen Medien.

"Ich sehe das Bedürfnis, dass wir präsent sein müssen in den sozialen Medien, denn ein Gutteil der Bevölkerung informiert sich nur dort. Den erreichen wir sonst nicht", sagt Lafleur im Gespräch mit beck-aktuell. Doch wie spricht man sie an? "Das Problem ist: Wie bekomme ich die erforderlichen Emotionen rüber?" meint Lafleur. Ein augenzwinkernder Auftritt, wie er schon bei einigen Polizeipräsidien Kritik erntete, stehe Gerichten nicht gut zu Gesicht, findet er. Es brauche eine gewisse Ernsthaftigkeit.

Doch wie sollte eine institutionelle Medienarbeit aussehen, die ohne Augenzwinkern und tanzende Richterinnen und Richter auskommt? Da ist man sich in den meisten OLG-Bezirken noch unsicher, berichtet Lafleur. Auf dem jährlichen Erfahrungsaustausch der Pressesprecherinnen und -sprecher sei Social Media zwar immer wieder ein Thema; auf seine Frage bei der letztjährigen Konferenz, ob dort jemand auf Instagram, X und Co. aktiv sei, habe er jedoch mehrheitlich Kopfschütteln gesehen. "Wir werden in Zukunft mehr machen als im Moment", kündigt Lafleur an. Wann und wie, das wisse er jedoch aktuell selbst noch nicht.

"Unser Portal sind die klassischen Medien"

Die Bedenken teilen viele Kolleginnen und Kollegen von Lafleur, etwa in NRW. "Wir machen uns seit Jahren Gedanken über das Thema", berichtet Marcus Strunk, Pressesprecher des Landesjustizministeriums. "Das ist für die Justiz eine große Herausforderung." Dabei nutzt die nordrhein-westfälische Justiz durchaus Kanäle wie YouTube, Instagram oder LinkedIn und hat dort auch kreative Angebote in petto. Ein Beispiel ist etwa der YouTube-Kanal "Podknast", auf dem Gefangene über das Leben im Strafvollzug berichten. Doch dies sind eher Nischenangebote.

Für die eigentliche Justiz-Pressearbeit sieht Strunk die neuen Medien dagegen nicht als Werkzeug. "Unser zentrales Portal nach außen sind die klassischen Medien und das sehen wir auch weiterhin so", erzählt er im beck-aktuell-Gespräch. Die Themen, über die es zu berichten gelte, seien zu komplex, um sie auf X-Posts zusammenzustutzen. Entscheidungen müssten der Öffentlichkeit sorgfältig erklärt werden, so Strunk. Dabei sehe man sich selbst nicht als Publikationsorgan, sondern als Unterstützer der Presse. Ein Schwerpunkt der Social-Media-Arbeit in NRW liege daher aktuell auf der Nachwuchsgewinnung und der "Vermittlung von Werten und Aufgaben der Justiz".

Schleswig-Holstein geht voran

Die Möglichkeiten einer justiziellen Öffentlichkeitsarbeit über Social Media hat man dagegen in Schleswig-Holstein nicht nur erkannt – man setzt sie auch um. Marc Petit, Vorsitzender Richter am LG Lübeck und seit November 2024 ehrenamtlicher Richter am LVerfG Schleswig-Holstein, zeichnet im OLG-Bezirk Schleswig für die Social-Media-Arbeit hauptverantwortlich. Er leitet ein Medienzentrum, von dem aus zentral die Online-Präsenz des ganzen Bezirks verwaltet wird. Das Projekt, das im März des vergangenen Jahres gestartet ist, besteht aus hauptamtlichen Richterinnen und Richtern aus allen teilnehmenden Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die rund 20% ihrer Arbeitszeit den Gerichts-Websites und sozialen Medien widmen. 

Petit sieht eine zeitgemäße und funktionierende Öffentlichkeitsarbeit als "grundgesetzlich verankerte Staatsaufgabe" an. Dabei geht es aus seiner Sicht nicht nur darum, Falschinformationen vorzubeugen, sondern es gilt auch, das Vertrauen in die Justiz zu stärken. "Mit unserer Online-Redaktion können wir viele Kanäle bespielen", so Petit. Mit LinkedIn, Facebook, Instagram, Mastodon, X, und Bluesky ist die schleswig-holsteinische Justiz auf allen wesentlichen Plattformen vertreten, abgesehen von TikTok. Hier seien die datenschutzrechtlichen Bedenken zu groß gewesen. Die Online-Redaktion veröffentlicht nicht nur Pressemitteilungen, sondern scannt auch aktiv die sozialen Medien. Sollte sich einmal ein "Shitstorm" abzeichnen, entwickelt eine sogenannte "Netzfeuerwehr" sogar Reaktionstexte im Namen der Justiz.

Doch gelingt damit auch das Projekt Vertrauensbildung? Petit berichtet von überwiegend positiven Erfahrungen in den Monaten seit dem Start der Redaktion. Natürlich werde man einen veritablen "Shitstorm" nie völlig ausbremsen oder verhindern können, doch je früher man mit sachlichen Informationen in eine Diskussion einsteige, desto mehr könne man bewegen. Verzerrte Darstellungen von Urteilen könnten so manchmal noch in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Außerdem: Mit der Kommunikation über Facebook und Co. erreiche man auch Menschen, die sonst nichts mit der Justiz zu tun hätten, sagt Petit. Fälle "aus dem Leben" könnten den Menschen zeigen, dass die Justiz nicht fernab von den Bürgerinnen und Bürgern existiere, sondern ganz vernünftig und lebensnah arbeite.

"Wir haben die Geschichten"

Lafleur ist dagegen skeptisch, ob die Justiz viel ausrichten könnte in der Kakofonie der digitalen Kommunikationsräume. Und auch Strunk verspricht sich wenig von einer Diskussion über Entscheidungen in sozialen Medien. Den Ansatz einer Zentralredaktion findet er hingegen durchaus charmant, fordert jedoch: "Man muss sich über das Ziel im Klaren sein." Aus seiner Sicht wären allgemeine Rechtsinformationen für Bürgerinnen und Bürger, aber auch spezielle Angebote für interessierte Berufsgruppen sinnvoll, etwa im Bereich der Finanzgerichtsbarkeit. Eine solche Redaktion könne auch Faktenchecks anbieten, wenn Medien oder einzelne Personen Fragen hätten, um so Fehlinformationen vorzubeugen. Gleichwohl meint auch Strunk, man dürfe im Bereich der Medienarbeit auf Social Media nicht zu ängstlich sein – "sonst darf man es nicht machen".

In Schleswig-Holstein ist man überzeugt vom eigenen proaktiven Ansatz. Perspektivisch soll das Social-Media-Team daher weiter wachsen, am liebsten auch um nicht-richterliche Personen wie etwa einen hauptberuflichen Social-Media-Manager, bzw. eine -Managerin, wie Marc Petit erklärt. Auch Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger könnten mithelfen. Dafür brauche es jedoch manchmal etwas Überzeugungsarbeit: „Beim Präsidium habe ich mit dem Vorschlag offene Türen eingerannt“, berichtet Petit vom Aufbau der Redaktion. "Bei den Kollegen brauchte es mitunter viel Überzeugungskraft." Auch hier begegnet sie einem also wieder, die Angst vor dem tanzenden Richter. "Wir brauchen nicht peinlich zu sein", meint Petit jedoch, "weil wir die Geschichten haben." Geschichten, die das Leben schreibt: "Was Menschen interessiert, sind andere Menschen und vor allem deren Konflikte." Sein Gedanke: Diese Geschichten sachlich zu erzählen, ist schon Unterhaltungswert genug, ohne dass jemand tanzt.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 17. Januar 2025.

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