Jurastudium: Vermittelt es ausreichend Bewusstsein für die Bedeutung des Rechtsstaats?
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Dass die Exekutive an das Recht gebunden ist und Entscheidungen unabhängiger Gerichte zu befolgen hat, fällt vielen schwer zu akzeptieren. John Philipp Thurn fragt, wie das Jurastudium dazu beitragen kann, angehenden Juristen die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln.

Zunehmend beruft sich illiberale Migrations- und Sicherheitspolitik auf den angeblichen Volkswillen, um Bindungen an Gesetze, die Verfassung oder die Europäischen Verträge zu entgehen. Wo "scheiß Gerichte" diffamiert und Richter persönlich angeprangert werden, ist Rechtsstaatlichkeit gefährdet: Die öffentliche Delegitimierung der Justiz ist typischerweise ein (früher) Schritt auf dem Weg der Autokratisierung. In einer solchen Situation sind demokratische Wachsamkeit und Engagement gefordert – gerade auch von juristischen Berufsverbänden und Rechtsanwaltskammern. Ein Vorbild können dabei die polnischen Juristinnen und Juristen mit ihrem Engagement bei der Verteidigung des Verfassungsstaats sein.

In der juristischen Ausbildung geht es dagegen um die Zukunft: Hier erlernen spätere Rechtsanwälte, Richterinnen und Ministerialbeamte ihr machtnahes und scheinbar unpolitisches, aber gerade deswegen so ideologieanfälliges "Handwerkszeug". Wenn künftige Juristinnen und Juristen überzeugt und befähigt werden sollen, sich für eine demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung und für die Menschenrechte einzusetzen, kommt das Studium teils zu spät und teils zu früh. Denn viele für ein Zusammenleben von Freien und Gleichen wichtige (Bildungs-)Erfahrungen finden schon in der Schulzeit statt. Die berufsethische Beschäftigung mit – häufig von Macht- und Geldfragen geprägten – typischen Konfliktlagen ist dagegen wohl erst ab dem Referendariat sinnvoll.

Gegen Indifferenz und Opportunismus

Insgesamt naiv wäre deshalb die Erwartung, die juristischen Fakultäten könnten dafür sorgen, dass Studierende zu liberalen Demokratinnen und Demokraten werden. Und dass sie ihre späteren Rechtsberufe nicht politisch indifferent oder opportunistisch ausüben, sondern auch und gerade in Krisensituationen couragiert für die Verfassung eintreten. Die Aufgabe der Hochschullehrenden ist anspruchsvoll genug, wenn Jurastudierende die Kompetenzen erwerben sollen, um – wie es in den Justizausbildungsgesetzen heißt – das geltende (materielle) Recht mit Verständnis zu erfassen und anzuwenden.

Klar: Die rechtsstaatlichen Grundsätze werden in Veranstaltungen zum Staatsorganisationsrecht und zu den Grundrechten ausführlich behandelt. Zum öffentlich-rechtlichen Lehr- und Prüfungsstoff gehören etwa Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot oder der Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte.

Typischerweise machen Studierende dabei aber die Erfahrung, dass anfangs abstrakt gelehrte Grundsätze und Maximen relativiert werden, sobald es an die konkrete Dogmatik der Rechtsanwendung und an die Falllösung geht. Beispielsweise behandelt die Vorlesung zum Allgemeinen Teil des Strafrechts das Gesetzlichkeitsprinzip gemäß Art. 103 Abs. 2 GG bzw. § 1 StGB, wonach eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde ("nulla poena"). Strafvorschriften müssen in einem Rechtsstaat hinreichend konkret sein, Analogien sind dabei verboten. Es dauert aber nicht lange, bis angehenden Juristinnen und Juristen vermittelt wird, dass auch eine gewaltlose Sitzblockade als "Gewalt" verfolgt werden kann. Oder dass das einfache Fahren ohne Fahrschein als ein "Erschleichen" von Leistungen gilt. So denken sie: Wenn der BGH das so macht, wird es ja wohl rechtsstaatlich zulässig sein. Auch die Frage, ob "Die Beleidigung wird [...] bestraft" wirklich ein hinreichend bestimmter Straftatbestand ist, wird dann gar nicht erst gestellt.

Flugzeugabschuss und Rettungsfolter

Meine Studienzeit fiel in die Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Im Rückblick fällt mir noch stärker als damals auf, dass uns einerseits die fundamentale Bedeutung der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie vermittelt wurde. Andererseits diskutierten wir ergebnisoffen über die staatliche Befugnis zum Abschuss entführter Flugzeuge oder zur (Androhung von) "Rettungsfolter" eines Kindesentführers. Alles war umstritten und alles schien vertretbar – stellt nicht der "Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision" das "Unabwägbarkeitsdogma" der Menschenwürde in Frage? Im Wege einer nüchtern-kleinteiligen Abwägung konnten letztlich auch die vorsätzliche Tötung von Fluggästen oder die Folter "mit guten Argumenten" für verfassungsmäßig erklärt werden. Absolut verbotene Mittel, die in einem Verfassungsstaat auch ein noch so guter Zweck nicht heiligen könnte, gab es damit keine mehr.

Natürlich ist es richtig und wichtig, dass Jurastudierende lernen, unterschiedliche Lösungen für Rechtsprobleme zu finden, Argumente zu entwickeln und produktiv miteinander zu streiten. Grenzenloser Wertrelativismus führt aber nicht zu einem demokratisch-rechtsstaatlichen Bewusstsein.

Might, right and a bad conscience

Historisch haben deutsche Rechtswissenschaftler bekanntlich noch fast jede staatliche Gewaltausübung für legal erklärt. Im Kolonialismus beispielsweise berief man sich auf wirksame "Schutzverträge" mit Kolonisierten, ohne jedoch die einheimischen "Anderen" als vertragsfähig anzuerkennen. Rechtsdogmatisch kreativ wurden deutsche Völkerrechtler auch, um den Überfall auf Polen 1939 für rechtmäßig zu erklären. Von diesen juristischen Vorfahren distanziert es sich heute leicht, weil wir schon ihre Beherrschungs- und Eroberungsziele nicht teilen. Bei der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 dagegen, die mit dem legitimen Schutz der albanischen Minderheit vor Völkerstraftaten begründet wurde, tun sich noch immer viele Juristinnen und Juristen schwer damit einzuräumen, dass die militärische NATO-Intervention ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats illegal war.

Überhaupt: Wenn es um einen Niedergang rechtsstaatlicher Überzeugungen geht, sind nicht nur "Law and Order"-Konservative zu kritisieren. Sie versuchen "den Rechtsstaat" in einen Sicherheitsstaat umzudeuten, der Kriminalität oder gar unregulierte Zuwanderung "mit der vollen Härte des Gesetzes" bekämpfen solle. Auch (Links-)Liberale beklagen zu häufig ein "Versagen des Rechtsstaats", wenn aus ihrer Sicht Polizei und Strafjustiz zu wenig  gegen sexistische, rassistische oder antisemitische Gewalt unternehmen. Als wäre der ein handlungsfähiges Subjekt. Rechtsstaatlichkeit besteht aber gerade in der Bindung staatlicher Verwaltung und Strafgewalt an verfassungsmäßige Gesetze sowie im effektiven (Grund-)Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte.

Beiträge der Hochschulen 

Wie kann das Jurastudium dazu beitragen, dass angehende Juristinnen und Juristen versuchen, die Formen, die Verfahren und die grundrechtlichen Grenzen eines Rechtsstaats gerade auch gegen die Mächtigen hochzuhalten? Den Anspruch, bei der Lehre von BGB, StGB und Verwaltungsrecht auch die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts zu fördern (§ 5a Abs. 3 Satz 1 DRiG), kann am ehesten eine reformierte Ausbildung erfüllen, die weniger auf die derzeitige Breite des rechtsdogmatischen Stoffs und mehr auf die grundlagenorientierte Vertiefung setzt. Juristische Urteilskraft entwickeln Studierende besser durch eigene Arbeit mit den Normtexten als dadurch, dass sie verschiedene "Theorien" zu Streitständen auswendig lernen.

Eine Chance bietet zudem die Vorgabe in § 5a Abs. 2 DRiG, wonach die Vermittlung der juristischen Pflichtfächer nun "auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht“ zu erfolgen hat: Sich an geeigneten Stellen mit realen Rechtsfällen zu beschäftigen, die deutsche Juristen beispielsweise im Zivilrecht durch "unbegrenzte Auslegung" von Generalklauseln wie § 138 oder § 242 BGB im nationalsozialistischen Sinne gelöst haben, kann produktiv irritieren. Lehrende wie Studierende reflektieren so die Missbrauchspotenziale der Jurisprudenz und werden sich der Geschichtlichkeit des Rechts bewusster. Schließlich ist nach dem Rechtswissenschaftler und zweimaligen Justizminister in der Weimarer Republik Gustav Radbruch (SPD) nur ein guter Jurist oder eine gute Juristin, wer es "mit einem schlechten Gewissen" ist.

Das Jurastudium kann also allein kein Engagement für Rechtsstaat und Demokratie produzieren. Es kann aber hoffentlich, in den Worten des im vergangenen Jahr verstorbenen Rechtswissenschaftlers und Reformers Rudolf Wiethölter, künftigen Juristinnen und Juristen vermitteln, "dass und warum sie gerade nicht zu allem fähig sind“.

Dr. John Philipp Thurn ist Richter am SG Berlin und Mitglied im Vorstand des Vereins Forum Justizgeschichte.

Gastbeitrag von John Philipp Thurn, 24. Juni 2025.

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