Sebastian Schunke führt zwei Leben. Man sieht es sofort, wenn man das Büro des Professors an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) betritt. In der Ecke – abgedeckt mit einem roten Filztuch – steht ein altes hölzernes Klavier. Davor zeugt ein abgenutzter Hocker von vielen Mußestunden zwischen Vorlesungen und Klausurvorbereitung. Statt Bücherregalen hängen an seinen Wänden Malereien. Die Kunst hat es geschafft, Einzug in eine juristische Welt zu halten.
"Ohne die Musik wäre ich ein ganz anderer Lehrender", sagt der 51-Jährige. "Mein musikalischer Background weitet meinen Blick." Seit 2010 unterrichtet Sebastian Schunke privates Wirtschaftsrecht an der HWR – Schwerpunkt Urheberrecht und gewerblicher Rechtsschutz. Schon viel länger ist er professioneller Jazz-Pianist. Doch er gibt nicht bloß Konzerte und bringt Alben heraus. Schunke gilt als wichtiger Erneuerer des Latin Jazz und hat eine eigene Musikrichtung entwickelt.
"Ich wollte das mit der Musik nicht lassen"
Auf den Jazz-Geschmack kommt Schunke mit 13. Nach einer klassischen Klavierausbildung bringt ihm sein Musiklehrer in einem kleinen Vorort von Hannover die kubanisch-lateinamerikanische Musik nahe, die sein Leben verändern wird. Er besucht Konzerte großer Jazz-Künstler wie Irakere und Eddie Palmieri. Seine erste eigene Band gründet er mit 14. Doch irgendwann kommt für Schunke der Tag der Entscheidung: Musik zum Beruf machen, oder doch etwas "Richtiges" lernen? Sein Vater ist Richter, sein großer Bruder angehender Anwalt – also versucht es auch Sebastian Schunke mit Jura in Göttingen. Und das stellte sich ebenfalls als gutes Match heraus: Er absolviert das Studium in nur sieben Semestern, pendelt nebenbei für Bandproben nach Hause. Denn so wirklich verlässt die Musik ihn nicht. "Ich war getrieben", sagt Schunke. "Ich wollte das mit der Musik nicht lassen, also habe ich versucht, das Studium schnell durchzuziehen."
Nach dem ersten Examen führt dieses Getriebensein Schunke in die Staaten. Er ergattert ein Promotionsstipendium in New York – dem Mekka des Jazz. "Die Stadt hat mich umgehauen", sagt er. "Gerade nach dem beschaulichen Göttingen wollte ich einfach raus und hatte diese große Chance, an der NYU zu studieren." Er genießt es, doch mit der Zeit zieht es Schunke immer öfter weg von der NYU. Nach Harlem, wo die Manhattan School of Music liegt. Ein Professor verschafft ihm dort einen Studienplatz und die New Yorker Jazz-Szene zieht den jungen Mann in seinen Bann. "Den Amerikanern war es egal, was man vorher gemacht hat oder wie alt man ist. Sie haben gesagt: Wenn du Musik machen willst, dann mach. Sie haben alle Kategorien weggewischt, in die ich mich selbst immer gesteckt habe. In dieser Zeit habe ich eigentlich zu 90% Musik studiert."
„Bist du Musiker oder Jurist?“
Natürlich ging das nicht ewig so weiter. Das Stipendium lief aus, die Promotion war nicht fertig. Und Schunke stand wieder vor einer schwierigen Entscheidung. "Ich wollte der Musik noch eine echte Chance geben. Ich hatte Lust, mich der Herausforderung eines Musikstudiums zu stellen." Gleichzeitig bleibt Jura in seinem Kopf. "Ich wurde so erzogen. Dinge, die man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen."
Er beginnt ein Referendariat in Berlin und bewirbt sich zugleich an der Musikhochschule Hanns Eisler. Doch als er aufgenommen wird, sind beide Institutionen nicht glücklich. Seine Ausbilder finden, er müsse sich entscheiden: Bist du Musiker oder Jurist? "Ich weiß noch, dass ich meinem Ausbilder im Referendariat gesagt habe, dass ich früher gehen muss, weil ich Theorie-Prüfung an der Musikhochschule hatte. Er hat gesagt: Wenn du die bestehst, brauchst du gar nicht wiederzukommen."
Die Reaktionen spiegeln Schunkes eigenen inneren Konflikt wider. Auch er fragt sich, wofür sein Herz mehr schlägt. An Jura gefallen ihm das logische Denken, die geistige Herausforderung und das große Verständnis für gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Musik dagegen bedeutet Leidenschaft. "Es hat mich gequält", gibt er zu. Doch dann erinnert er sich an das offene Mindset der New Yorker, die sich damals geweigert hatten, ihn in eine Schublade zu stecken. Er verschiebt die Entscheidung, setzt sich über seine Ausbilder hinweg und zieht das Musikstudium neben dem Referendariat durch.
"Es hat einfach alles gepasst"
Und es klappt. Er absolviert das Referendariat, schreibt ein gutes Examen und startet als Anwalt in Teilzeit bei Linklaters. "Meine Kollegen fanden es super, dass ich Musik studiert habe", sagt er. "Ich bin mit meiner Band bei Kanzleievents aufgetreten." Wieder trifft Schunke Menschen, die seine Zweigleisigkeit akzeptieren, sogar schätzen. Mit seiner Erfahrung in der Branche wird er Experte für Musik- und Filmverträge. "Ich habe gemerkt, es gibt Menschen, die die Vielschichtigkeit des Lebens sehen und wertschätzen." Auch Schunke beginnt zu glauben, dass er beides sein kann: Musiker und Jurist.
Dann trifft er einen Mann, der sich später als einer seiner größten Förderer herausstellen wird: Artur Wandtke, Professor für Bürgerliches Recht, Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht an der Humboldt Universität zu Berlin und ehemaliger Profi-Tänzer. Wandtke bietet ihm eine Promotionsstelle an, dieses Mal im Musikrecht, und unterstützt ihn auch bei seinem Musikstudium.
Von da an ist Schunke auch juristisch in seinem Element, die Arbeit am Lehrstuhl macht ihm Spaß und die Musik bleibt auch nicht auf der Strecke. "Es hat einfach alles gepasst." Nach seinem Abschluss an der Hanns Eisler geht er mit seiner Band auf Reisen, einmal sogar als Kulturbotschafter mit dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler nach Benin und Äthiopien. Sein Doktorvater Wandtke ermöglicht es. "Zu Wandtke zu wechseln, das war die genialste Entscheidung meines Lebens."
"Eine andere Form des Selbstempfindens"
Viel Freizeit bleibt Schunke wahrlich nicht. Neben der Promotion und der Arbeit am Lehrstuhl finanziert er sein Musikstudium weiter mit der Arbeit als Anwalt. "Ich war oft am Limit, habe bis spät in die Nacht gearbeitet. Aber das habe ich auch genossen." Seine Musik schenkt ihm den Ausgleich, den er von seiner juristischen Arbeit braucht – und andersherum. "Jura und Musik haben sich gegenseitig den Druck genommen. Es werden unterschiedliche Ebenen des Geistes angesprochen, es ist eine andere Form des Selbstempfindens." Manchmal ist der Wechsel zwischen beiden Disziplinen nicht einfach, aber Schunke sieht auch Ähnlichkeiten: "Wie Jura hat auch das Musizieren einen großen intellektuellen Teil." Inzwischen genießt er es, beide Seiten zu leben.
Seit 14 Jahren ist Schunke nun Hochschullehrer. Jura zu unterrichten gibt ihm Ruhe und Gelassenheit, sagt er. Und von seiner Interdisziplinarität profitierten auch die Studierenden der HWR, die selbst an der Schnittstelle zwischen Jura und Wirtschaft unterwegs sind. "Junge Menschen sollen sich nicht von gesellschaftlichen Erwartungen prägen lassen", sagt er. "Das Leben hat viel zu bieten."
2022 wird Schunke dann auf eine ganz besondere Art für sein Durchhaltevermögen belohnt. Als erster deutscher Künstler bekommt er den Premio internacional Cubadisco verliehen – den kubanischen Grammy, wie der wichtigste kubanische Musikpreis auch genannt wird. In seiner Musik vereint er die lateinamerikanischen Rhythmen mit modernen europäischen Elementen. Das kommt gut an – auch in Kuba. "Ich hätte nie gedacht, dass meine Musik und meine Art, mit der Jazz-Kultur zu spielen, von den Kubanern so gut angenommen wird.", sagt er. "Das hat mich sehr berührt."
Vor kurzem hat Schunke sein achtes Album Existential Intensities herausgebracht und wurde erneut für den Premio internacional Cubadisco nominiert. Für ihn hat es sich gelohnt, allen Unsicherheiten zum Trotz an seinem Traum vom Jura-Jazz-Doppelleben festzuhalten. "Es war ein langer Prozess. Aber jetzt bin ich auf der Genuss-Seite."