Anfang September einigten sich in Hessen Wissenschafts- und Justizministerium sowie die Universitäten auf die Einführung des integrierten Jura-Bachelors. Damit kommt ein Abschluss für die Kandidaten in Sicht, die die Erste juristische Prüfung (meist genannt: das erste Staatsexamen) nicht bestehen. Die gesetzliche Regelung steht noch aus, soll aber Pressberichten zufolge Rückwirkung haben.
Das ist eine gute Idee. Auch NRW, Berlin und Rheinland-Pfalz* haben entsprechende Regelungen eingeführt und werden damit Schule machen. Und man darf sich – ein wenig optimistisch – schon jetzt fragen, welches Bundesland diesen Weg wohl als letztes gehen wird. Das Saarland vielleicht. Oder Bayern? Egal. Für die Studenten ist das eindeutig eine gute Nachricht. Selbst wenn noch im letzten Anlauf alles schiefgeht, sind sie nicht zurückgeworfen auf Abitur und Fahrerlaubnis.
Auch nur 50 Seelen darf man retten
Das sehen aber offenkundig nicht alle so. Über die Bedenken der AfD im hessischen Landtag wird man lächelnd hinweggehen können: Dass künftig die Bachelor-Studentinnen denjenigen, die aufs Staatsexamen zielen, die Studienplätze wegnehmen werden, ist schon wegen des Auffang-Charakters des Bachelorgrads schwerlich zu befürchten. Und selbst wenn zwei parallele Studiengänge an derselben Fakultät angeboten würden, könnte man einfach mal den Markt entscheiden lassen. Schlimmstenfalls würde sich herausstellen, dass das Staatsexamensstudium unattraktiv und womöglich gar reformbedürftig ist.
Ernster nehmen muss man den Kommentar von Sascha Zoske in der FAZ vom Mittwoch dieser Woche (Bezahlschranke). Der steht unter der aussagestarken Überschrift "Ein Bachelor, den keiner braucht" und kommt zu dem Ergebnis, die Einführung dieses Abschlusses sei bloß gesetzgeberischer Aktivismus. Die dafür vorgebrachten Argumente scheinen mir diskutabel, aber letztendlich eher dünn. Etwa: Das Problem habe 2023 hessenweit nur knapp 50 Menschen betroffen. Warum sollte der Landesgesetzgeber nicht 50 verlorene Seelen jährlich retten? Wenn ich 50 Seelen gerettet habe, wische ich mir den Schweiß von der Stirn und gönne mir eine Verschnaufpause. Wichtiger: Die Existenz des integrierten Bachelors wird hunderten - äh: tausenden! – Studenten das Leben ein kleines bisschen sorgenfreier machen. Man kann das für weicheierig halten oder sich eines Urteils einfach mal enthalten, aber es bleibt ein Faktum: Auffällig viele Jurastudenten empfinden ihr Studium nicht nur als fordernd, sondern als psychisch belastend.
Ein Sargnagel fürs Staatsexamen?
Die Sorge, dass juristisch Unbegabte den Talentierten die Studienplätze wegnehmen könnten, weil sie sich bis zum Bachelor "durchschleppten", muss man sich wohl nicht machen. Kaum ein Studienplatz ist so billig zu schaffen wie einer in Jura - man sehe sich nur einmal die Betreuungsrelationen im Vergleich zu anderen Studienfächern an, von den Kosten der Ausstattung einer Fakultät einmal ganz abgesehen. Wir könnten also leicht ein paar juristische Studienplätze "nachlegen".
Charmant ist auch das immer mal wieder präsentierte Argument der Verwässerung der Berufszugangsvoraussetzungen. Irgendwann könnte jemand auf die Idee kommen, zu fragen, ob man wirklich nur mit zwei Staatsprüfungen Richter oder Rechtsanwältin werden könne. Wörtlich heißt es im FAZ-Kommentar: "In England etwa kann man mit einem Bachelor schon Rechtsanwalt werden." Da fehlt nur noch der Hinweis darauf, dass in England bekanntermaßen der Rechtsstaat schon seit Jahrhunderten am Boden zerstört ist.
Über diese Argumente lässt sich - natürlich - streiten. Ernsthaft irritierend wirkt der Ton, in dem sie formuliert sind. Der Beitrag spricht wiederholt vom "Loser-Bachelor" und nennt das Ganze einen "Abschluss light", einen "Abschluss zweiter Klasse" und einen "Trostpreis". Immerhin steht der "Loser" in Anführungszeichen, und Gott sei Dank fehlt diesmal das "Jodeldiplom". Die Begriffe hätten seit ihrer erfolgreichen Einführung vor gut zwei Jahren hochkant aus der Debatte rausfliegen sollen, und praktisch jeder, der Herz oder Hirn oder beides hat, hat sich ordentlich über sie geärgert. Bezeichnenderweise werden sie am liebsten von Leuten verwendet, die die Mühen der juristischen Examina nur vom Hörensagen kennen. Dass Worte verletzen, hat unlängst die allgemeine Empörung über die prüfungsamtlich-interne Bezeichnung der Nichtbesteher als Blockversager gezeigt. Das tut doch gar nicht not.
Ist das noch journalistisch-pointiert oder schon unnötig giftig?
Ich frage also wieder einmal: Wollen wir so miteinander reden? Müssen wir Leute, die eine wichtige Prüfung nicht bestanden haben, wirklich als Verlierer ansprechen? Vielleicht ist das eine gute Idee: Nennen wir doch einfach die Menschen, die die Führerscheinprüfung nicht bestanden haben, Mobilitätsverlierer! Dabei hätten wir so schöne neutrale Alternativen. "Examens-Abkackende" zum Beispiel. Würden wir so unsere besten Freunde nennen, unsere Kinder und deren beste Freunde, den fachlichen Nachwuchs im Allgemeinen? In unsere Rede schleicht sich damit ein ganz unschöner, leicht darwinistischer Ton. Ich schlage vor, darüber noch einmal nachzudenken.
Vielleicht wäre es auch volkswirtschaftlich besser, auch bei den Nichtbestehern den Blick auf das Potenzial zu richten, auf das Wissen und Können, das sie sich trotz nicht bestandener Prüfung angeeignet haben. Ich selbst unterrichte regelmäßig Studentinnen und Studenten, die zuvor Jura studiert haben, teils bis zum Staatsexamen, manchmal mit zwei gescheiterten Anläufen. Die haben manchmal Beulen an ihrem Selbstvertrauen erlitten, aber regelmäßig bringen sie sehr gute Leistungen, schließen erfolgreich mit einem Bachelor ab, hängen gern noch einen Master dran - und manchmal promovieren sie dann. Gerade Juristinnen und Juristen gehen oft ellenbogig genug miteinander um; da könnte ein wenig sprachliche Zivilisierung nicht schaden. Vielleicht wächst uns eines Tages die menschliche Größe und die gesellschaftliche Klugheit zu, von diesem Verlierer-Denken ganz wegzukommen.
Man darf hoffen, dass die Idee des integrierten Bachelors Kreise zieht. Vielleicht entscheiden sich schon in naher Zukunft messbar mehr Studieninteressierte für ein Studium in einem der Bundesländer, die diesen Weg gehen. Und wenn dann eines schönen, nicht allzu fernen Tages das letzte Bundesland den integrierten Jura-Bachelor einführt - müsste man dieses Land nicht irgendwie als "Bildungsmodernisierungsverlierer" auszeichnen, kurz als "Bachelor-Loser"? So gewönne das Wort dann noch einen gewissen Charme.
Prof. Dr. Roland Schimmel lehrt Wirtschaftsprivatrecht und Bürgerliches Recht an der Frankfurt University of Applied Sciences.
* Anm. d. Red.: Ursprünglich hieß es an dieser Stelle, eine entsprechende Regelung gebe es auch in Schleswig-Holstein. Dies ist nicht korrekt, das Land hat bislang keine solche Regelung eingeführt. (geändert am 16.09.2024, 11.27 Uhr, mam)