beck-aktuell: Herr Professor Herdegen, zu Beginn eine einfache, aber letztlich wohl furchtbar komplizierte Frage: Durfte Israel Stellungen im Iran bombardieren?
Prof. Dr. Matthias Herdegen: Wir bewegen uns hier in einer Grauzone. Der Militärschlag Israels gegen den Iran und gegen sein, wie Israel vorträgt, im Aufbau befindliches Massenvernichtungspotenzial ist ein äußerst schwieriger Test für die Bestimmung der Grenzen der Selbstverteidigung.
Die UN-Charta sagt: Ein Staat hat das Recht zur militärischen Abwehr im Fall eines bewaffneten Angriffs. Lange war es in der Völkerrechtswissenschaft breiter Konsens, dass der Angriff hierfür bereits stattfinden muss. Das heißt, es müssen bereits die Flugzeuge im eigenen Luftraum sein, die Panzer müssen über die Grenze rollen. Später hat man dann erkannt, dass das den Gegebenheiten moderner Konflikte nicht mehr entspricht. Und seit etwa 20 Jahren sind wir uns weitgehend darüber einig, dass das Selbstverteidigungsrecht jedenfalls dann greift, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Wir denken da im Hinblick auf Israel an den Sechstagekrieg, als Israel umgeben war von aggressionswilligen, angriffsbereiten Nachbarn und mit einer relativ kleinen Streitmacht mit Präventivschlägen auf diese Bedrohung reagiert hat.
"Haben hier eine besondere Situation"
beck-aktuell: Israel hat damals in Ägypten Luftwaffenbasen angegriffen und damit einen Angriff abgewendet, bevor er überhaupt gestartet war…
Herdegen: …eine Situation, die durchaus vergleichbar ist mit der Argumentation, die Israel jetzt vorträgt, nämlich die Sorge vor einem sich schließenden Zeitfenster. Damals musste Israel seine Streitmacht in wenigen Stunden mehrfach mobilisieren, um die Luftstreitkräfte mehrerer Nachbarstaaten zu neutralisieren und überhaupt eine Chance zu haben, in dieser militärischen Auseinandersetzung zu überleben. Ähnlich ist die Argumentation von Israel jetzt: Der Iran habe seine Vernichtungsabsicht im Hinblick auf das Land klar kommuniziert und baue zudem ein komplexes Trägersystem mit Raketen auf. Hinzu kommt die Sorge, der Iran sei dabei, Atomwaffen zu entwickeln. Wir wissen nicht genau, was der Stand dieser Entwicklung ist. Wir wissen aber, dass der Iran immer wieder seine vertraglichen Kooperationspflichten verletzt hat, was die Internationale Atomenergiebehörde diesen Monat noch einmal förmlich festgestellt hat.
Wir haben hier also eine besondere Situation, in der wir zwar nicht davon ausgehen können, dass der Iran in den nächsten Tagen einen Atomangriff ausführt, es aber irgendwann zu spät sein wird, dies zu verhindern, wenn Raketensysteme – womöglich nuklear bestückt – im ganzen Land verteilt in Felsmassiven verbunkert und damit für Israel und seine Alliierten nicht mehr erreichbar sind. Einer solchen Situation sollte man auch im Völkerrecht meiner Ansicht nach Rechnung tragen.
"Bin mir sicher, dass alle Großmächte dieser Doktrin folgen"
beck-aktuell: Das heißt, Sie befürworten, dass das Selbstverteidigungsrecht in einem Fall, in dem die Vernichtungsabsicht eines anderen Staates klar geäußert wird und sich das praktische Zeitfenster für eine spätere Gegenmaßnahme zu schließen droht, früher eingreift?
Herdegen: Ich halte das nicht nur für plausibel, sondern bin mir auch sicher, dass alle Großmächte dieser Doktrin folgen. Keine Großmacht auf dieser Welt würde eine existenzielle Bedrohungssituation abwarten, bis sich dieses Handlungsfenster geschlossen hat.
Natürlich muss man sich mit dem Gegenargument auseinandersetzen, dass dies Missbrauchsmöglichkeiten birgt und eine Eskalationsspirale in Gang setzen kann. Aber in dem besonderen Fall, dass ein Akteur seine Vernichtungsabsicht klar bekundet, es greifbare Anhaltspunkte für den Aufbau eines Massenvernichtungspotenzials gibt und im ganzen Land unterirdische Trägersysteme aufgebaut werden, ist die Gefahr eines Missbrauchs dieses Arguments eigentlich ausgeschlossen. Schließlich kann man dann nicht davon ausgehen, dass die Selbstverteidigung zum Vorwand gemacht wird für Eroberungen und ähnliches. Und die Staaten haben es ja durchaus in der Hand, einer präventiven Abwehrmaßnahme zu entgehen, indem sie glaubhaft ihre Vernichtungsabsicht widerlegen. Im Fall des Iran könnte das Land einfach seinen Kooperationspflichten mit der Internationalen Atomenergiebehörde genügen.
"Ein 'Regime Change' ist niemals ein legitimes Ziel militärischer Gewalt"
beck-aktuell: Viele Völkerrechtler argumentieren jedoch anders und auch auf Ebene der UN dürfte im Moment nicht überall Unterstützung für Israels Präventivangriff zu erwarten sein. Wie sehen Sie in dieser Lage die Chancen, dass sich Ihre Auffassung durchsetzt?
Herdegen: Natürlich sollte man schauen, wie die Reaktionen in der Staatenwelt sind, doch wir müssen uns auch ganz klar vergegenwärtigen, dass Staaten wie Russland, China und andere größere oder kleinere Mächte sich überhaupt nicht um völkerrechtliche Schranken scheren. Es bringt also nichts, darauf zu hoffen, dass man hier in einen konstruktiven rechtlichen Dialog mit solchen Mächten treten kann. Man wird also auf die Staaten achten müssen, die sich dem Völkerrecht verpflichtet fühlen. Und hier glaube ich schon, dass das Zusammenspiel von einer offenen Vernichtungsabsicht und dem Nuklearpotenzial eines Akteurs, der schon seit Jahrzehnten einer der großen Verursacher von Instabilität im Mittleren und Nahen Osten ist, geeignet ist, eine neue Dynamik in die Diskussion zu bringen.
beck-aktuell: Geht man davon aus, dass ein Angriff im weiteren Sinne bevorsteht, dürfte Israel also Atomanlagen im Iran angreifen. Doch manche Militärschläge und Äußerungen aus der israelischen Regierung erwecken den Eindruck, dass es auch um einen "Regime Change" geht. Wo verläuft da die Grenze des Selbstverteidigungsrechts?
Herdegen: Die Position, die ich vertrete, setzt natürlich voraus, dass wir die Selbstverteidigung ganz klar abgrenzen von der Absicht, die Regierungsform in einem anderen Staat zu ändern. "Regime Change" ist niemals ein legitimes Ziel militärischer Gewaltanwendung. Gleichwohl kann sie mitunter die Folge sein. Da kann man an viele humanitäre Interventionen denken, etwa in Libyen oder im Kosovo. Doch der "Regime Change" taugt niemals als Rechtfertigung.
Ich würde mir wünschen, dass Israel hier sehr sensibel agiert. Es hat hier auch einen Ruf, den es nicht leichtfertig verspielen sollte. Ich sage das ganz bewusst auch im Hinblick auf die letzte Phase des Gaza-Konflikts, wo wir uns alle fragen, ob bestimmte Maßnahmen, Blockaden von Hilfslieferungen und ähnliches, noch mit der gebotenen Schonung der Zivilbevölkerung in Einklang stehen.
"Staaten müssen den Eindruck haben, dass es fair zugeht"
beck-aktuell: Kommen wir noch zu einer institutionellen Frage: Das Völkerrecht steckt aktuell in einer Legitimationskrise. Wir haben Russlands Aggression, eine Krise des IStGH, eine Kontroverse um die UN-Sonderbeauftragte für Palästina, Francesca Albanese. Was ist die Völkerrechtsordnung noch für Israel wert, insbesondere wenn sie das Land zwingen würde, einen iranischen Angriff abzuwarten?
Herdegen: Es gibt in der Staatstheorie seit dem 17. Jahrhundert einen Zusammenhang zwischen der Bindung an das Recht, dem damit verbundenen Verzicht auf Gewalt einerseits und dem Gewaltmonopol des Staates andererseits. Wenn wir diesen Gedanken auf die internationale Ebene heben, muss eine Balance bestehen zwischen dem Verzicht auf die Gewaltanwendung als Mittel der Politik und der Gewissheit, dass die Existenz des eigenen Staates und des eigenen Volkes vom Völkerrecht geschützt wird. Die Normen müssen so ausgestaltet sein, dass möglichst alle Staaten den Eindruck haben, dass es grosso modo fair zugeht. Nur dann ist ihnen auch zuzumuten, sich elementaren Beschränkungen zu unterwerfen. Wenn dieser Befolgungsanreiz nicht mehr da ist, weil ein Staat sich alleingelassen fühlt, dann nimmt die Autorität der Rechtsordnung insgesamt Schaden. Das sollten auch meine deutschen Kollegen vielleicht in stärkerem Maße in den Blick nehmen.
Wir erleben ja, dass die westliche Welt eine vielgestaltige ist. Und wir denken in Deutschland oft, die ganze Welt würde so ticken wie wir. Wir erleben aber, dass die Welt bereits in Paris, London oder Washington ganz anders aussieht als in Berlin und Posemuckel. Ich glaube, was wir jetzt erleben, ist auch eine Mahnung, zumindest den Blick auf die ganze westliche Welt zu werfen, die ja immer noch zusammengehalten wird von bestimmten Grundwerten und dem Glauben an das Völkerrecht – und nicht die etwas schläfrige Position fortzuentwickeln, die wir jahrzehntelang in Deutschland hatten, weil wir dachten: Gewalt, Sicherheit und Verteidigung – das ist die Aufgabe des amerikanischen Steuerzahlers.
beck-aktuell: Herr Professor Herdegen, vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Matthias Herdegen ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und des Instituts für Völkerrecht an der Universität Bonn.
Die Fragen stellte Dr. Hendrik Wieduwilt.
Das ganze Gespräch hören Sie in der aktuellen Folge 58 von Gerechtigkeit & Loseblatt – Die Woche im Recht, dem Podcast von NJW und beck-aktuell.