beck-aktuell: Frau Professorin Hoven, Sie haben vor drei Jahren in einer Studie das Phänomen Catcalling untersucht. Landläufig stellt man sich darunter vor, dass eine Frau auf der Straße von einem Mann mit einem anzüglichen Spruch oder einem Pfiff belästigt wird. Entspricht das der Realität oder was sind stattdessen typische Erscheinungsformen?
Hoven: Es ist wichtig, diese Frage zu stellen, denn die Diskussion leidet oft darunter, dass wir von ganz unterschiedlichen Bildern ausgehen. Wenn man Catcalling nur als Hinterherpfeifen versteht, fragt man sich natürlich, was das mit Strafrecht zu tun haben soll. Denkt man aber an massive verbale sexuelle Belästigungen, sieht das anders aus. In unserer Studie haben wir rund 9.000 Social-Media-Beiträge ausgewertet, in denen vor allem Frauen von Catcalling-Erlebnissen berichteten. Dabei fanden wir vor allem körperliche und weitreichende verbale Übergriffe. Das klassische Hinterherpfeifen kam tatsächlich selten vor und war fast immer mit weiteren Übergriffen wie Verfolgen oder Anfassen verbunden. Es geht also nicht um harmlose Anmachsprüche, sondern oft um massive verbale Herabwürdigungen.
"Es bleibt eine Schutzlücke"
beck-aktuell: Wenn es um verbale Herabwürdigung geht, denkt man an § 185 StGB, die Beleidigung. Warum greift der in vielen Fällen des Catcallings nicht?
Hoven: Das ist richtig. Wenn man § 185 StGB anders anwenden würde, wäre die Schutzlücke kleiner. Aber die Rechtsprechung ist hier sehr restriktiv. Der BGH betont, dass eine sexuell motivierte Äußerung allein meist keine ehrverletzende Missachtung darstellt. Selbst wenn eine Frau durch eine Äußerung auf ihre Sexualität reduziert wird, reicht das nach aktueller Rechtsprechung oft nicht für eine strafbare Beleidigung. Ich sehe diese Rechtsprechung kritisch. Zwar gibt es vereinzelt neue Tendenzen, etwa im Fall Luisa Neubauer, aber flächendeckend ist das nicht angekommen. So bleibt eine Schutzlücke.
beck-aktuell: Das heißt, nach aktueller Rechtsprechungslinie ist die Reduktion einer Frau auf ein Sexualobjekt oft nicht als Beleidigung strafbar?
Hoven: Genau, das wird häufig so gesehen. Es gibt zwar einen Bewusstseinswandel, auch bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, aber die bisherige BGH-Rechtsprechung steht weiterhin im Raum. Sexuelle Äußerungen gelten nur im Ausnahmefall als beleidigend, meist dann, wenn das angesprochene sexuelle Verhalten als verwerflich oder ehrenrührig anzusehen ist. Das sieht die Rechtsprechung etwa gegeben, wenn unterstellt wird, jemand sei zu sexuellen Handlungen gegen Entgelt bereit – was auch wieder eine sehr altmodische Sichtweise ist.
beck-aktuell: Catcalling soll nach Vorstellung der SPD künftig eher im Sexualstrafrecht und nicht bei den Äußerungsdelikten angesiedelt werden. Das Sexualstrafrecht schützt vor allem die sexuelle Selbstbestimmung, die bisher meist als etwas Körperliches verstanden wurde. Inwiefern gefährden auch verbale Übergriffe die sexuelle Selbstbestimmung?
Hoven: Die Frage, ob auch verbale Belästigungen die sexuelle Selbstbestimmung verletzen, ist nicht einfach. Kritiker werfen zu Recht ein, dass man das Schutzgut recht beliebig definieren und dadurch immer stärker ausweiten kann. Ich meine aber, dass sich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nicht nur auf körperliche Übergriffe beschränken kann. Es muss auch gewährleisten, nicht gegen den eigenen Willen zum Objekt sexueller Interaktion gemacht zu werden. Nach der Reform des Sexualstrafrechts 2016 steht die konsensuale Sexualität im Vordergrund. Dazu gehört aus meiner Sicht auch das Recht, nicht kommunikativ in sexuelle Beziehungen gezogen zu werden – ein Konfrontationsschutz. Das ist dem StGB im Übrigen nicht fremd, etwa bei unaufgeforderter Zusendung von Pornografie oder beim Exhibitionismus, wo das Opfer nicht körperlich berührt, aber trotzdem instrumentalisiert wird.
"Das Strafrecht muss auch seine Grenzen wahren"
beck-aktuell: Neben obszönen Gesten und Rufen wird unter Catcalling auch auffälliges Anstarren und Nachpfeifen verstanden. Sollte das Strafrecht auch vor solchen Handlungen schützen oder sind das Alltagsärgernisse, denen man eher auf sozialer Ebene begegnen sollte, wie etwa die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion Susanne Hierl entgegnet?
Hoven: Das Strafrecht muss auch seine Grenzen wahren. Nicht jedes Fehlverhalten oder jede Bagatelle darf strafrechtlich verfolgt werden. Das reine Nachpfeifen unter Strafe zu stellen, will vermutlich kaum jemand. Das Strafrecht braucht eine Erheblichkeitsschwelle, sonst verliert es an Glaubwürdigkeit. Bei der Formulierung eines neuen Tatbestands sollte man diese Schwelle ausdrücklich aufnehmen, um Alltagsärgernisse von strafwürdigem Verhalten abzugrenzen.
beck-aktuell: Eine Erheblichkeitsschwelle bringt naturgemäß Abgrenzungsprobleme mit sich. Das Strafrecht muss aber – so jedenfalls die Theorie – bestimmt und vorhersehbar sein. SPD-Justizministerin Stefanie Hubig meint, der Rechtsstaat könne mit Graubereichen gut umgehen und werde es nicht übertreiben. Wie treffsicher kann man zwischen einem missglückten Anmachspruch und erheblicher Belästigung unterscheiden?
Hoven: Bei Graubereichen bin ich etwas weniger optimistisch. Aktuell zeigt die Praxis etwa bei Beleidigungen von Politikern, dass Strafverfolgungsbehörden offen formulierte Tatbestände manchmal sehr weit auslegen. Und schon die Verfolgung kann ja massive Konsequenzen für Betroffene haben. Gerade bei Kommunikationsdelikten – und ein solches wäre das Catcalling ja – ist eine ganz präzise Formulierung naturgemäß schwierig, denn Kommunikation ist vielfältig. Die Beleidigung ist ein Extrembeispiel: Es gibt gar keinen ausformulierten Tatbestand, sondern das Gesetz sagt nur: Die Beleidigung wird bestraft. Das sieht man auch am Delikt der Volksverhetzung: Für sehr viele Äußerungen werde ich Ihnen Kolleginnen und Kollegen nennen können, die sie als strafbar beurteilen und solche, die sie als straflos einstufen.
Man sollte also ehrlich sein und zugeben, dass man sich mit einem neuen Tatbestand auch Unsicherheiten einkauft. Im Zweifel muss dann gegen die strafrechtliche Anwendung entschieden werden – also: Ist ein Verhalten im Graubereich, darf es nicht bestraft werden. Wichtig ist, Strafverfolgungsbehörden für die ultima ratio des Strafrechts zu sensibilisieren.
"Das Phänomen würde erst einmal sichtbarer werden"
beck-aktuell: Gibt es bei sexuellen Kommentaren weniger Abwägungsprobleme als bei klassischen Beleidigungen?
Hoven: Ja, denn bei Beleidigungen steht oft die Meinungsfreiheit im Spannungsfeld zum Ehrschutz, etwa bei politischer Kritik. Dieses auch rechtsstaatlich sensible Spannungsverhältnis besteht bei sexuellen Kommentaren in der Regel nicht.
beck-aktuell: Deutschland wäre nicht das erste Land mit einer Strafbarkeit für Catcalling. In den Niederlanden ist das bereits Gesetz. Gibt es Erkenntnisse, ob solche Gesetze die Zahl der Taten verringern?
Hoven: In den Niederlanden ist eine Evaluation geplant, deren Ergebnisse ich mit Spannung erwarte. Bisher liegen sie aber noch nicht vor. Es wäre sinnvoll, mit der Formulierung eines deutschen Tatbestands auf diese Ergebnisse zu warten. Auch ein Blick nach Frankreich, Spanien oder Belgien lohnt sich: Dort sollte man sich mit Praktikern austauschen, um Fehler zu vermeiden. Einen unmittelbaren Rückgang solcher Taten darf man aber nicht erwarten. Man kann auch darüber streiten, ob das die Hauptfunktion des Strafrechts sein kann und sollte. Zunächst wird das Phänomen vermutlich eher sichtbarer werden, weil mehr Fälle gemeldet und erfasst werden. Langfristige Wirkungen lassen sich nur schwer vorhersagen.
beck-aktuell: Frau Professorin Hoven, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Prof. Dr. Elisa Hoven lehrt Strafrecht an der Universität Leipzig, sie ist zudem Richterin am VerfGH Sachsen. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist das Sexualstrafrecht.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.
Das Gespräch hören Sie auch in Folge 65 von Gerechtigkeit & Loseblatt, dem Podcast von beck-aktuell und NJW.


