beck-aktuell: Handelt es sich bei dem Vorschlag des Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz Nico Lange, der nun in der Union, aber auch in Teilen der Ampel-Regierung diskutiert wird, um ein Gedankenspiel oder wäre eine solche Unterstützung militärisch möglich?
Christian Richter: Mit dem Flugabwehrraketensystem PATRIOT könnte von NATO-Gebiet aus ein solcher Schutzkorridor von 70 km gewährleistet werden. Allerdings könnten damit nur relativ hochfliegende und nicht alle Flugkörper bekämpft werden. Marschflugkörper, taktische ballistische Raketen und auch Flugzeuge wären klassische Ziele. Das französisch-italienische Flugabwehrraketensystem SAMP/T arbeitet ähnlich wie das PATRIOT-System und könnte entsprechend eingesetzt werden.
Man darf sich den realisierbaren Schutzschirm aber nicht als hermetisch geschützten Korridor mit einer Tiefe von 70 km entlang der Grenzen der NATO-Staaten zur Ukraine vorstellen. Man würde dann nur gewisse Räume über Hochwertzielen schützen.
Das Gewaltverbot und seine Ausnahmen
beck-aktuell: Im Zusammenhang mit den Waffenlieferungen an die Ukraine wurde in der Vergangenheit häufiger argumentiert, dass Deutschland bzw. die NATO nicht aktiv in den Krieg eingreifen dürfe. Würde es nicht tatsächlich eine Grenze überschreiten, wenn die NATO selbst die Luftabwehr stellen würde?
Christian Richter: Die gegenwärtige Diskussion erinnert stark an die Diskussionen über die Bewertung von Waffenlieferung westlicher Staaten an die Ukraine aus dem Jahr 2023. Seinerzeit wurde aus meiner Sicht mit der Fokussierung auf den Begriff der "Konfliktpartei" unglücklicherweise ein leicht schiefes Bild gezeichnet. Wenn wir heute vom "Überschreiten einer roten Linie" oder einer "Grenze" sprechen, ist das ähnlich.
Die völkerrechtliche Bewertung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen erfolgt durch zwei streng voneinander getrennte Rechtsgebiete. Dem ius ad bellum und dem ius in bello.
Im Zentrum des ius ad bellum, auch ius contra bellum genannt, steht das Gewaltverbot. Dieses verbietet grundsätzlich jede militärische Gewaltanwendung zwischen Staaten. Es regelt aber auch die Frage, wann Staaten ausnahmsweise militärische Gewalt gegen andere Staaten anwenden dürfen. Dies kann aufgrund einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen auf Grundlage der Art. 39 und 42 UN-Charta der Fall sein.
Daneben erkennt die UN-Charta in Art. 51 das unveräußerliche Recht auf Selbstverteidigung an - das im Fall der Ukraine unzweifelhaft gegeben ist. Die Ukraine ist von Russland angegriffen worden und führt im Rahmen ihres Selbstverteidigungsrechts einen Verteidigungskrieg gegen den Aggressor.
Kollektives Recht auf Selbstverteidigung nach UN-Charta
beck-aktuell: Welche Rechte gibt das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 UN-Charta insoweit Drittstaaten? Lange schrieb bei X, dass es kein "Einsatz der NATO" wäre, sondern Unterstützung der Ukraine nach Art. 51 der UN-Charta.
Christian Richter: Neben dem individuellen Selbstverteidigungsrecht beinhaltet Art. 51 UN-Charta auch das Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Demnach ist es jedem Staat dieser Welt völkerrechtlich erlaubt, der Ukraine beizustehen, sie in ihrem Verteidigungskrieg auch militärisch zu unterstützen und den Aggressor Russland zurückzuschlagen. Insofern dürfte Deutschland aus völkerrechtlicher Sicht auch zu Gunsten der Ukraine mit Luftverteidigungssystemen oder anderen militärischen Mitteln eingreifen.
Davon dichotomisch zu trennen ist allerdings das Rechtsgebiet des ius in bello - besser bekannt als Humanitäres Völkerrecht oder Recht des bewaffneten Konflikts, auf Englisch Law of Armed Conflict (LOAC). Dort ist geregelt, wie sich Konfliktparteien, vornehmlich staatliche Streitkräfte in einem bewaffneten Konflikt zu verhalten haben. Also: Wer darf kämpfen und militärische Schädigungshandlungen vornehmen? Wer darf umgekehrt bekämpft werden? Wer oder was ist zu schützen?
Das Recht des bewaffneten Konflikts erkennt den bewaffneten Konflikt als traurige Realität an, versucht aber das menschliche Leid im konkreten Fall soweit wie möglich zu reduzieren. Es fragt nicht danach, wer den bewaffneten Konflikt verursacht hat. Es behandelt die Konfliktparteien gleich. Das Recht des bewaffneten Konflikts gilt auch, wenn ein Staat zur Konfliktpartei eines bereits bestehenden bewaffneten Konflikts wird. Dies ist nach der Staatenpraxis regelmäßig dann der Fall, wenn Handlungen einen unmittelbaren Bezug zur Schädigung einer der bisherigen Konfliktparteien aufweisen. Das Abschießen von Flugkörpern fällt zweifellos darunter.
Russland: Kein Recht auf Gegenschlag
beck-aktuell: Unabhängig davon, ob NATO-Einsatz oder Unterstützung nach Art. 51: Wäre ein solches Vorgehen nicht brandgefährlich? Könnte Russland sich ggf. auf ein Recht berufen, seine Flugkörper vor Boden-Luft-Raketen zu schützen – beispielsweise durch Angriffe auf Abschussstellungen?
Christian Richter: Eine Sicherheitszone in der Dimension Luft wäre eine tatsächliche Eskalation des Konflikts. Inwieweit ein solches Vorgehen gefährlich ist, muss die Politik beantworten. Man würde tatsächlich mit Luftabwehrmaßnahmen zur Konfliktpartei im Sinne des ius in bello. Dies hat aber auch nur rechtliche Konsequenzen für dieses Rechtsgebiet und für das Völkerstrafrecht. Würden beispielsweise russische Soldaten westliche Soldaten angreifen, die an der Luftabwehr mit Patriotsystemen agieren, würden diese russischen Soldaten aus Sicht des Rechts des bewaffneten Konflikts und des Völkerstrafrechts nicht rechtswidrig handeln und kein Kriegsverbrechen begehen. Die westlichen Soldaten wären Kombattanten und dürften aus Sicht des Rechts des bewaffneten Konflikts rechtmäßig mit letaler Gewalt bekämpft werden.
Dies heißt aber eben nicht, dass der Staat Russland das Recht hätte, einen an der Luftabwehr beteiligten Staat anzugreifen. Das ist ausnahmslos nach dem ius ad bellum zu beurteilen. Nach diesem ist und bleibt Russland der rechtsbrüchige Aggressor und die Ukraine der sein Selbstverteidigungsrecht ausübende Staat. Diesem darf sich jeder andere Staat im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung rechtmäßig anschließen - egal ob es ein Einsatz der NATO wäre oder nur einzelne Staaten agieren würden.
Die Grenze hat Putin überschritten, kein anderer. Russland hat die Pflicht, seine Waffen niederzulegen, dem Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 UN-Charta Folge zu leisten und seinen Aggressionskrieg zu beenden.
Verfassungsrechtlich braucht es einen Parlamentsbeschluss
beck-aktuell:Bedeutet dies, dass die UN-Charta Deutschland unmittelbar das Eingreifen erlaubt?
Christian Richter: Völkerrechtlich wäre das Eingreifen mit Luftverteidigungssystemen unproblematisch aufgrund des eben genannten kollektiven Selbstverteidigungsrechts aus Art. 51 UN-Charta.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist die Situation allerdings etwas anders zu bewerten. Nicht jeder völkerrechtlich mögliche Streitkräfteeinsatz ist nach dem Grundgesetz zulässig. Deutschland darf seine Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG nur zur Landes- und Bündnisverteidigung oder im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit nach Art. 24 Abs. 2 GG einsetzen. Ein Fall der Landes- und Bündnisverteidigung ist derzeit nicht gegeben. Demnach dürfte Deutschland nur im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit seine Streitkräfte einsetzen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung sind die Vereinten Nationen, die NATO und die EU Systeme kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG.
Eine sogenannte "Koalition der Willigen" reicht also nicht aus. Hier müsste aus verfassungsrechtlicher Sicht also gerade ein Einsatz der NATO oder der EU vorliegen. Ansonsten dürfte sich Deutschland aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht beteiligen.
Entsprechend bedurfte es eines Beschlusses der EU, damit sich die Deutsche Marine bei der Bekämpfung der Bedrohung der Freiheit der Schifffahrt durch die Huthi-Milizen im Roten Meer beteiligen durfte. Die Deutsche Marine agiert als Teil der EU-geführten Operation EUNAVFOR ASPIDES. Letztlich bedarf der Einsatz der Streitkräfte noch eines konstitutiven Parlamentsbeschlusses.
beck-aktuell: Setzt die UN-Charta dem Recht auf kollektive Selbstverteidigung Grenzen?
Christian Richter: Begrenzt wird das Selbstverteidigungsrecht nur durch das ungeschriebene Gebot der Verhältnismäßigkeit. Die andere Begrenzung ist in Art. 51 UN-Charta positiviert: Das Selbstverteidigungsrecht gilt nur so lange, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Diese Begrenzung spielt aufgrund der Paralyse des Sicherheitsrats im hiesigen Fall jedoch keine Rolle.
Drohne oder bemanntes Flugzeug: Rechtlich kein Unterschied
beck-aktuell: Aufgrund des Frontverlaufs wäre es eher unwahrscheinlich, dass bemannte russische Fluggeräte getroffen würden. Hätte dies aber Einfluss auf die rechtliche Einschätzung des Einsatzes? Umgekehrt: Würde sich etwas ändern, sollte ein Flugzeug mit russischen Soldaten abgeschossen werden?
Christian Richter: Entscheidend ist, ob militärische Gewalt angewendet wird. Das ist beim Einsatz von Flugabwehrraketen zweifellos der Fall. Ob diese bemannte oder nicht-bemannte Systeme treffen, ist irrelevant. Deutschland würde zur Konfliktpartei nach dem ius in bello, hätte nach dem ius ad bellum aber zweifelsfrei das Recht, im Rahmen des kollektiven Selbstverteidigungsrechts die russischen Streitkräfte anzugreifen. Welche Art von Waffensystemen angegriffen würden, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Russland ist hier Aggressor und bleibt es auch.
Beck-aktuell: Laut einem Bericht des "Spiegel" hat der Unionspolitiker Roderich Kiesewetter den Vorschlag mit der Unterstützung Israels durch die USA, Frankreich und Großbritannien gegen den iranischen Luftangriff auf Israel verglichen. Ist die Situation tatsächlich vergleichbar? Und rechtlich?
Christian Richter: Dieser Vergleich ist aus rechtlicher wie auch aus militärischer Sicht etwas unglücklich.
Die USA, Frankreich und das Vereinigte Königreich haben im Rahmen einer Art "Koalition der Willigen" Israel im Rahmen des kollektiven Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 UN-Charta beigestanden. Völkerrechtlich wäre das für Deutschland also auch unproblematisch möglich.
Da hier aber kein System kollektiver Sicherheit gehandelt hat, hätte Deutschland sich aus verfassungsrechtlicher Sicht gar nicht beteiligen dürfen.
Aus militärischer Sicht dürfte es bereits im Vorfeld eine intensive Zusammenarbeit zwischen den USA, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Israel gegeben haben. Ohne ein hohes Maß an Interoperabilität wäre es kaum möglich gewesen, so viele Ziele nahezu vollständig zu bekämpfen. Zudem hatte Teheran die Luftangriffe vorher schon angekündigt. Das alles ist auf den Ukrainekrieg nicht übertragbar.
Dr. Christian Richter ist Rechtsanwalt und wissenschaftlicher Referent für Staatsrecht und Völkerrecht am German Institute for Defence and Strategic Studies (Hamburg).