"Eine Krise der Demokratie kann man nicht weg reden"
© Di Fabio / privat

Das Grundgesetz ist auch nach 75 Jahren Lebenszeit noch sehr stabil, meint der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio im Interview. Eine Versicherung gegen antidemokratische Entgleisungen sei es aber nicht. Wenn das Volk die Demokratie nicht wolle, nütze es wenig, sie in der Verfassung zu fixieren.

beck-aktuell: Laut einer Umfrage des Mercator Forums Migration und Demokratie glauben 81 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, das Grundgesetz habe sich in seiner Lebenszeit bewährt. Aber gleichzeitig zeigen Umfragen einen stetigen Vertrauensverlust in demokratische Institutionen. Auch die Sympathie für antidemokratische Regierungen erlebt einen Aufschwung. Sie, Herr Di Fabio, sind nicht nur Jurist, sondern auch Sozialwissenschaftler und haben sich schon oft mit der Fragilität liberaler Demokratien beschäftigt. Besorgt Sie diese Entwicklung und wie erklären Sie sich die Diskrepanz zwischen Freude über das Grundgesetz und Ablehnung seiner Institutionen?

Udo Di Fabio: Ja, das Grundgesetz ist heute 75 Jahre alt geworden und allein der Zeitraum signalisiert, dass es eine stabile Verfassung ist. Die Weimarer Reichsverfassung hat nur 13 Jahre lang gehalten. Vielleicht ist heute sogar eine Art Verfassungspatriotismus an die Stelle des klassischen Patriotismus getreten. Je fragiler und fragmentierter eine Gesellschaft wird, desto mehr schaut man auf unverbrüchliche Spielregeln und Rechtsdokumente, die unsere Werteordnung formulieren. Und das ist ein Stück gemeinsame Grundlage. Insofern haben wir allen Grund, das Grundgesetz zu feiern. 

Doch was Sie mit dem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen ansprechen, zeigt auch, dass es Krisenphänomene und Erosionserscheinungen im republikanischen Fundament gibt. Das lässt sich in allen westlichen Demokratien beobachten, keineswegs nur in Deutschland. Darüber muss eine offene Gesellschaft verstärkt nachdenken.

beck-aktuell: Einerseits gibt es eine hohe – abstrakte – Zustimmung zum Grundgesetz, auf der anderen Seite werden Parlament, Medien und andere demokratische Institutionen verstärkt mit Skepsis gesehen. Inwiefern ist das Grundgesetz mit der liberalen Demokratie notwendig verknüpft?

Udo Di Fabio: Wir haben im Grundgesetz immer die verbesserte Version der Weimarer Verfassung gesehen. Bestimmte Schwächen dieser Verfassung sind auch durch das Grundgesetz korrigiert worden. Das hat bei manchen zu dem Eindruck geführt, das Grundgesetz sei eine Art Versicherungspolice gegen alle antidemokratischen Entgleisungen, gegen Abwege, die eine Gesellschaft nehmen kann. 

Das dürfte bei einer ernsthaften Belastungsprobe nicht richtig sein, denn jede Verfassung lebt von der Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger eines Landes. Es bedarf eines Mindestmaßes an Engagement – in der Wahlkabine, auch in der Bereitschaft, in Parteien mitzuwirken oder Ehrenämter zu übernehmen. Wenn das nicht mehr ausreichend der Fall ist, wenn der Parteienbetrieb nicht mehr akzeptiert wird, wenn der notwendige Zwang zum Kompromiss im Parlament oder in Koalitionen nicht mehr verstanden wird oder auch, wenn der Staat sich in den Augen der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr als handlungsfähig erweist, dann nutzt auch eine gute Verfassung am Ende des Tages nicht mehr so viel, wie wir das bislang geglaubt haben. 

"Wenn das Volk die Demokratie nicht mehr will, nützt deren Fixierung in der Verfassung wenig"

beck-aktuell: Sie haben das Phänomen angesprochen, dass eine Demokratie nicht nur von oben gestürzt werden, sondern auch von unten erodieren kann. Zwar legt Art. 20 Absatz 1 GG fest, dass die Bundesrepublik ein demokratischer Staat ist. Aber die Möglichkeiten und Spielarten, Demokratien zu unterwandern, sind gegenwärtig in der Diskussion und auch tatsächlich in manchen Ländern zu beobachten. Sehen Sie auch hierzulande eine Tendenz dahin? 

Udo Di Fabio: Ich möchte am Geburtstag des Grundgesetzes keine Katastrophensemantik bedienen. Aber man muss schon im Bewusstsein halten: Auch Art. 1 der Weimarer Reichsverfassung hat eine Demokratie vorgeschrieben. Und insofern war das, was 1933 passierte, ein Bruch dieser Verfassung. Dem vorausgegangen war aber im Jahr 1932 die Abwahl der Demokratie in zwei freien Reichstagswahlen. Dort haben die verfassungsfeindlichen Parteien weit über 50 Prozent der Stimmen bekommen. Das heißt, man konnte nicht mehr demokratisch regieren, weil das Volk die Demokratie nicht länger wollte. In so einem Fall nutzt die Fixierung des Demokratieprinzips in der Verfassung nicht mehr viel.

Von solchen Zuständen sind wir ein großes Stück weit entfernt. Wir sollten jetzt nicht so tun, als stünde die AfD unmittelbar vor der Machtergreifung. Dennoch müssen wir damit rechnen, dass die AfD oder auch andere populistische oder sogar extremistische Parteien bei Wahlen in einem Ausmaß Erfolg haben könnten, dass die gefährlichen Ränder breiter werden. Wir leben in einer volatilen Gesellschaft, die stimmungsgetrieben ist und längst nicht mehr so gefestigt, wie das noch vor Jahrzehnten der Fall war. Was geschieht eigentlich, wenn im Bundestag oder in Landtagen die demokratischen Parteien über alle politischen Richtungen hinweg zu einer Koalition genötigt sind, weil man sonst die radikalen oder extremistischen Kräfte bedienen müsste, die man nicht bedienen will? Und was macht das dann mit einer Demokratie? 

Wir stoßen auf Krisensymptome im demokratischen System, aber auch bei den politischen Herausforderungen steht das Land vor erheblichen Strukturproblemen. Ich glaube allerdings, dass sie durch Umsteuern lösbar sind und dass wir deshalb kein Untergangsszenario an die Wand malen sollten. Doch eine Krise der Demokratie wird man nicht weg reden können.

"Das Grundgesetz braucht kein Plebiszit"

beck-aktuell: Aktuell werden verschiedentlich Vorschläge gemacht, was man tun könnte, um die Demokratie, den Glauben an die Verfassung und die daran verbürgten Werte zu festigen. Braucht es eine Volksabstimmung über das Grundgesetz, wie sie jüngst der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow vorgeschlagen hat?

Udo Di Fabio: Die Volksabstimmung über das Grundgesetz ist eigentlich schon im August 1949 erfolgt. In einer Wahlbeteiligung zur Bundestagswahl von fast 80 Prozent hat man schon damals ein Plebiszit für die Verfassung gesehen. 1990 erfolgte das ostdeutsche Plebiszit mit der freien Volkskammerwahl, als die Parteien, die auf den Beitritt zur Bundesrepublik über Art. 23 GG a.F.  eintraten, eine überwältigende Mehrheit erhielten, während die SED/PDS mit dem Ruf nach einer neuen Verfassung nur etwas über 16 Prozent der Stimmen erzielte. Wir sollten heute nicht die Tatsachen von damals schief darstellen und so tun, als sei das Grundgesetz irgendjemandem übergestülpt worden. Es ist eine breit akzeptierte Verfassung, die nun wirklich keines Plebiszites bedarf. 

beck-aktuell: In Polen und anderen Staaten, die in den vergangenen Jahren eine Tendenz zum Autoritarismus durchlebt haben, konnte man beobachten, dass Verfassungsgerichte oft der erste Angriffspunkt für Antidemokratinnen und Antidemokraten sind, um den Rechtsstaat für sich zu instrumentalisieren. Vor diesem Hintergrund ist auch in Deutschland eine Diskussion darüber entbrannt, ob das Bundesverfassungsgericht resilienter gemacht werden muss, etwa durch eine Verankerung bestimmter Vorschriften im Grundgesetz. Dazu haben sich auch Ihre frühere Kollegin Gabriele Britz und Ihr früherer Kollege Michael Eichberger in der FAZ geäußert. Sehen auch Sie eine Notwendigkeit, das Gericht vor dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers zu schützen?

Udo Di Fabio: Eine Altersgrenze, die gegenwärtig noch bei 68 Jahren liegt und die Amtszeit von 12 Jahren in die Verfassung zu nehmen, ist eine richtige Idee, um Manipulationen einer potenziellen Bundestagmehrheit zu erschweren. Würde man beispielsweise im Bundesverfassungsgerichtsgesetz das Höchstalter der Richter auf 50 Jahre herabsetzen, wäre ein Großteil der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts plötzlich ohne Amt…

beck-aktuell: …und damit schnell austauschbar durch eine einfache Mehrheit.

Udo Di Fabio: Das wäre eine Manipulation, um ganz schnell politisch genehme Richterinnen und Richter ans Gericht zu setzen. 

Wenn man aber das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit für die Wahl der Richterinnen und Richter in die Verfassung schriebe, wäre das, glaube ich, kontraproduktiv. Denn das würde auch bedeuten, dass demokratiefeindliche Kräfte, die es nicht in die Regierung schaffen, aber über ein Drittel der Mandate im Bundestag verfügen, eine Sperrminorität erlangen würden. Ohne ihre Zustimmung könnten dann keine Richterin und kein Richter mehr gewählt werden. Eine demokratisch getragene Regierung könnte nach heutigem Recht zur einfachen Mehrheit im Gesetz übergehen, nach einer entsprechenden Festschreibung in der Verfassung aber nicht mehr. 

"Ständig an die Verfassung Hand anzulegen, macht sie in der Regel nicht besser"

beck-aktuell: Das Bundesverfassungsgericht ist in den vergangenen Jahren zuweilen in die Kritik geraten, wahlweise für seine Zurückhaltung, die man ihm in Zeiten der Pandemie unterstellt hat, aber auch für seine Entschlossenheit, die beim Thema Klimaschutz oder beim Bundeshaushalt kritisiert wurde. Ist das Gericht aus Ihrer Sicht zuletzt seiner Rolle als Hüter der Grundrechte gerecht geworden?

Udo Di Fabio: Im Großen und Ganzen ja. Das Gericht ist stark und im internationalen Vergleich hoch angesehen. Und regelmäßig weiß es auch, wann es sich zurückhalten muss, um den demokratischen politischen Prozess nicht zu sehr zu belasten, aber auch, wann es einer Regel oder einem ausdrücklichen Verbot Geltung verleihen muss. 

Die Ableitung von gesetzgeberischen Handlungspflichten aus abstrakten Prinzipien oder aus den Grundrechten ist möglich, muss aber Ausnahme bleiben, um den politischen Gestaltungsprozess nicht rechtlich übermäßig zu fesseln. Das kann ansonsten zum Vertrauensverlust der Demokratie beitragen. Die Frage übermäßiger Zurückhaltung oder eines ebenso übermäßigen richterlichen Aktivismus ist immer umstritten gewesen und die geschickte Navigation zwischen Skylla und Charybdis bleibt eine richterliche Daueraufgabe. Ich kann keine grundsätzliche Fehlentwicklung speziell in Karlsruhe erkennen.

beck-aktuell: Zum Abschluss noch ein kurzer Ausblick: Wir als Gesellschaft stehen in den kommenden Jahren vor recht gravierenden Veränderungen, etwa im Bereich Klimaschutz, der Veränderung der Wirtschaft, der Industrie. Sehen Sie das Grundgesetz dafür gerüstet oder braucht es neue Grundrechte, wie sie verschiedentlich gefordert werden, etwa im sozialen Bereich für Kinder oder für die Umwelt bzw. das Klima?

Udo Di Fabio: Offen gestanden glaube ich das nicht: Das Grundgesetz ist vor 75 Jahren ein großer Wurf gewesen – und zwar gerade da, wo Grundrechte oder Staatsstrukturprinzipien abstrakt, mit einem hohen Grad an Allgemeinheit formuliert worden sind. Solche Grundrechte, wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, kann man immer in die Zeit stellen. Man hört manchmal, das Bundesverfassungsgericht habe neue Grundrechte erfunden. Das darf das Gericht natürlich nicht. Doch wenn man aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ableitet, dann ist das im Grunde genommen keine Innovation, sondern eine Anpassung an neue Fragestellungen und Herausforderungen. Und das wird auch in Zukunft über Rechtsprechung funktionieren. 

Man muss nicht ständig an den Verfassungstext Hand anlegen. Ich verstehe ja, dass die Politik jeder Generation eine Spur in der Verfassung hinterlassen will. Aber das macht die Verfassung regelmäßig – bis auf wenige Ausnahmen – nicht besser.

beck-aktuell: Herr Di Fabio, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Udo Di Fabio: Ich bedanke mich.


Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio lehrt Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Von 1999 bis 2011 war er Mitglied des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Sein Buch „Schwankender Westen – Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss“ ist 2015 bei C. H. Beck erschienen.

Die Fragen stellte Maximilian Amos. Das Interview ist eine bearbeitete Fassung des Gesprächs mit Prof. Dr. Dr. Di Fabio in Folge 7 vom 23. Mai 2024 von „Gerechtigkeit & Loseblatt - Die Woche im Recht“, dem Podcast von NJW und beck-aktuell.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 24. Mai 2024.