Aktivismus als Verfassungsinterpretation? Über zivilen Ungehorsam im Dienst des Rechtsstaats

Da sie die Grenze zur Illegalität überschreiten, sind Protestaktionen etwa von "Klimaklebern" hoch umstritten. Die Rechtswissenschaftlerin Dr. Samira Akbarian hat ein Buch über Bedeutung und Potenzial zivilen Ungehorsams geschrieben. Manuel Leidinger hat mit ihr über ihre Arbeit gesprochen.

Leidinger: Frau Dr. Akbarian, in Ihrem Buch "Recht brechen - Eine Theorie des zivilen Ungehorsams" stellen Sie die These auf, eine gelingende Form zivilen Ungehorsams könne Demokratie und Rechtsstaat dienlich sein. Ziviler Ungehorsam könne als Verfassungsinterpretation verstanden werden. Können Sie das näher erläutern?

Akbarian: Ziviler Ungehorsam kann aus drei verschiedenen Sichtweisen verstanden werden.  Das klassische Modell des zivilen Ungehorsams geht auf die liberalen Demokratietheorien von Jürgen Habermas und John Rawls zurück. Sie gehen davon aus, dass wir ein grundsätzlich gerechtes System bzw. die Verfassung als gute Ordnung haben. Es gebe aber immer wieder Momente, in denen der Anspruch des demokratischen Rechtsstaats, den er selbst an sich stellt, nicht erfüllt wird: die Vorstellung, dass alle darin ihre Freiheit und Gleichheit verwirklichen können. Ziviler Ungehorsam soll genau für diese Momente im Sinne einer klassischen Verfassungsinterpretation genutzt werden.

Eine andere Sichtweise stellt auf die ethische Funktion des zivilen Ungehorsams ab. Demnach ist der liberale Rechtsstaat dafür da, dass ich meine persönlichen Überzeugungen leben und meinem Gewissen folgen kann. Nach dieser Konzeption kommt der zivile Ungehorsam in einem Moment zum Tragen, in dem ich einem Gesetz nicht folgen kann, ohne entgegen meinen Überzeugungen, meinem Gewissen, zu handeln. Demnach gibt es Momente, in denen wir über die Verfassung hinausgehen müssen. Dann sprechen wir nicht von einer klassischen Interpretation der gegenwärtigen Verfassung, sondern von einem Angebot, wie eine Ordnung sich besser gestalten kann.

Eine dritte radikaldemokratische Sichtweise befürwortet disruptivere Formen des zivilen Ungehorsams. Sie widerspricht von vorne herein der Erzählung, dass es eine gerechte Gesellschaft gibt. Manchmal gebe es sogar schwerwiegende grundsätzliche Ungerechtigkeiten und gegen die müsse man mit zivilem Ungehorsam vorgehen. Diesen disruptiven Ansatz finden wir z.B. in der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sagt: Wir haben kein konkretes Anliegen, wir haben keine konkrete Verfassungsinterpretation, sondern wir wollen euch zeigen, dass es die offene Gesellschaft gar nicht gibt. Denn manche, nämlich schwarze Personen, werden systematisch aus dieser ausgeschlossen.

"Verfassung ist die Freiheit und Gleichheit unter den Menschen"

Leidinger: Trotzdem bringen Sie alle drei Sichtweisen, auch letztere radikaldemokratische Konzeption, unter dem Begriff der Verfassungsinterpretation zusammen. Haben alle drei ihre Berechtigung?

Akbarian: Ja. Es sind unterschiedliche Modelle, die ein unterschiedliches Verständnis vom zivilen Ungehorsam haben. Ich sage: All das ist trotzdem Verfassungsinterpretation. Interpretation heißt, dass uns der Ungehorsam aufzeigt, dass immer auch alles anders sein kann, wir können auch immer alles anders verstehen. Ich setze dem dann aber trotzdem eine Grenze durch die Verfassung. Unter Verfassung verstehe ich nicht das deutsche Grundgesetz, sondern im Kern die Freiheit und Gleichheit unter den Menschen.

Leidinger: Wie kann man in Ihren Augen verhindern, dass sich verfassungs- und demokratiefeindliche Kräfte auf zivilen Ungehorsam berufen?

Akbarian: Ja, das ist eine Kritik, die man gegen das radikaldemokratische Konzept anbringen kann. Wenn man radikaldemokratisch denkt, dann müssten auch die Begriffe der Freiheit und Gleichheit interpretationsoffen bleiben. Das ist in meinem Konzept aber nicht so. Ich sage, wir brauchen eine Grenze. Wir müssen einen Maßstab haben, den wir trotz aller Interpretationsfreiheit universell festlegen, und das sind Freiheit und Gleichheit.

Freiheit und Gleichheit hängen für mich zusammen und bedeuten so etwas wie ein "Recht auf Rechte". Das ist ein Begriff von Hannah Arendt. Damit meint sie, dass wir mit den universellen Menschenrechten wie Menschenwürde, Religionsfreiheit etc. eigentlich nicht wirklich weiterkommen. Was wir brauchen, ist ein Recht darauf, Teil einer politischen Gemeinschaft oder auch Teil einer Gemeinschaft von Verfassungsinterpretinnen und -interpreten zu sein, in der wir eine Ordnung mitgestalten können, die uns Rechte gewährt.

Zudem stehen Freiheit und Gleichheit in Relation. Sie führen zu einer gegenseitigen Verantwortung, die sich aus einer gegenseitigen Verletzlichkeit ergibt. Das heißt, dass wir Verantwortung füreinander haben, weil wir einander verletzen können – weil wir einander auch töten können. Diese grundsätzliche Verletzlichkeit zeigt sich im Klimaprotest gerade auch im Verhältnis zur Natur. Sie begründet eine Verantwortung auch gegenüber natürlichen Entitäten, gegenüber der Erde. Alle Aktionen, die diese Verantwortung tragen, und den Menschen ein Recht auf Rechte zugestehen, sind aus meiner Sicht zivil. Alles was nicht darunter gefasst werden kann, ist dagegen nicht mehr zivil bzw. auch keine Interpretation der Verfassung mehr.

Leidinger: In Ihrem Buch setzen Sie sich auch mit dem Vorwurf gegen Aktivistinnen und Aktivisten auseinander, diese würden Ihre moralischen Anliegen als absolute, dem Recht übergeordnete Wahrheiten begreifen. Das erscheint paradox, weil ziviler Ungehorsam ja gerade darauf abzielt, die absolute Geltung von bestehendem Recht infrage zu stellen. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

Akbarian: Zunächst einmal möchte ich vorausschicken, dass ich mit meiner wissenschaftlichen Arbeit einen Beitrag zur Demokratietheorie und nicht zur Wissenschaftstheorie leiste. Wenn wir hier also über Wahrheit sprechen, dann sprechen wir über Wahrheit in der Demokratie. Und Wahrheit kann in der Demokratie eigentlich nicht absolut sein.

Ich bin beeinflusst von einem Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, nämlich, dass der freiheitlich-säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht gewährleisten kann. Böckenförde spricht von einem freiheitlich-säkularisierten Staat. Dahinter steckt aber die kerndemokratische Idee, dass im Zentrum der Macht immer eine Leerstelle ist. Diese muss leer bleiben, damit sich die Dinge verändern können. Nichts darf darin absolut gesetzt werden.

Wenn man jetzt die Klimaforschung absolut setzt und sagt, nur so kann es gehen, dann haben wir die Demokratie wieder verlassen. Gelegentlich wurde Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten wie der Gruppierung Extinction Rebellion vorgeworfen, sie gingen von absoluten Wahrheiten aus. Heißt das jetzt: Es gibt keine Forschung und das ist alles relativ? Nein! Es bedeutet, dass wir in der Demokratie Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen, aus diesen aber keine absoluten Schlüsse ziehen sollten. Die Forschungsergebnisse sind nicht als absolute Wahrheiten zu behandeln, sondern als etwas, das eine Verantwortung auslöst. Und dieser Verantwortung müssen wir uns als demokratische Gemeinschaft stellen.

"Klimaaktivisten vertreten kommende Generationen"

Leidinger: Sie beschäftigen sich im Buch auch mit der Kritik des Elitismus einiger Aktivistinnen und Aktivisten: Viele seien von den aufgezeigten Missständen gar nicht betroffen, sondern gehörten zu einer privilegierten Schicht und könnten die betroffenen marginalisierten Gruppen gar nicht repräsentieren. Wie stehen Sie dazu?

Akbarian: Vielen Klimaaktivistinnen und -aktivisten wird tatsächlich eine Art Besserwisserei vorgeworfen. Nach dem Motto: Da kommt ihr Akademikerkinder und habt eigentlich keine Ahnung davon, welche wirtschaftlichen Probleme es in Deutschland wirklich gibt. Ihr seid davon gar nicht betroffen. Wer seid ihr, die Straßen zu blockieren und damit Verkehr und Wirtschaft zu behindern?

Ich möchte diesen Vorwurf so nicht gelten lassen. Was die Klimaaktivistinnen und -aktivisten da machen, ist eine Form der Stellvertretung, die außerhalb der repräsentativen Institutionen funktioniert – die also nicht für sich behauptet, repräsentativ zu sein. Wen vertreten sie? Personen oder Entitäten, die nicht vor Ort sein können: Menschen im globalen Süden, die besonders von der Klimakrise betroffen sind, kommende Generationen, die noch nicht geboren oder noch zu klein sind, um für ihre Interessen auf die Straße zu gehen, oder auch natürliche Entitäten wie Regenwälder, schmelzende Pole oder Ozeane, die unmittelbar von der Klimakrise betroffen sind. Gerade weil diese Personen und Entitäten nicht vor Ort sein können, müssen sie vertreten werden.

Leidinger: Welche konkreten Forderungen haben Sie an Politik, Verwaltung und Gerichtsbarkeit im Umgang mit zivilem Ungehorsam?

Akbarian: Ich würde mir wünschen, dass sich der zivile Ungehorsam als Verfassungsinterpretation in Gerichtsurteilen widerspiegelt. Im Strafrecht kann dieser schon auf Tatbestandsebene eine Rolle spielen, beispielsweise bei der Interpretation des Gewaltbegriffs. Der Einsatz der eigenen Verletzlichkeit sollte meines Erachtens nicht als Gewalt angesehen werden. Genau das tut die Rechtsprechung jedoch aktuell.

Genauso könnte der zivile Ungehorsam als Verfassungsinterpretation auf der Rechtfertigungsebene eine Rolle spielen. Hier sollten wir über unsere Interpretation des Versammlungsbegriffs noch einmal nachdenken, also ob Sitzblockaden von der Versammlungsfreiheit geschützt werden sollten. Schließlich muss es möglich sein, dass sich ein Protestmittel weiterentwickelt, ebenso wie der Versammlungsbegriff selbst.

Drittens könnte das Ganze auf Strafzumessungsebene eine Rolle spielen. Die klassischen Maßstäbe, die wir auf Strafzumessungsebene haben – etwa eine drohende Wiederholungsgefahr oder dass jemand uneinsichtig ist – passen beim zivilen Ungehorsam nicht. Daraus kann meiner Ansicht nach nicht geschlossen werden, dass eine Person ins Gefängnis gehen sollte. Das halte ich für unverhältnismäßig und wir sollten diese Maßstäbe anpassen. Insgesamt sollten wir die Spielräume auf den verschiedenen Ebenen nutzen. Das Gesetz durch zivilen Ungehorsam zu brechen, ist ein Beitrag zu Demokratie und Rechtsstaat und kann das Gesetz bzw. die Verfassung weiterentwickeln.

Leidinger: Frau Dr. Akbarian, vielen Dank für dieses Interview!

Dr. Samira Akbarian ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsarbeit über den zivilen Ungehorsam wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Ihr Buch "Recht brechen - Eine Theorie des zivilen Ungehorsams" erschien am 19. September 2024 im Beck-Verlag.

Die Fragen stellte Manuel Leidinger.

Manuel Leidinger, 8. Oktober 2024.