beck-aktuell: Frau Dr. Schulte, der AfD-Abgeordnete Markus Frohnmaier plant eine Reise nach Moskau. Politische Gegnerinnen und Gegner wittern Landesverrat und drohen mit einer juristischen Prüfung. Kann man Abgeordneten das Reisen untersagen?
Dr. Henrike Schulte: Nein, nach aktueller Rechtslage kann man das nicht. Das Reisen ist Teil des Rechtes auf freie Mandatsausübung, das in Artikel 38 Abs. 1 S. 2 GG garantiert ist. Dieses Recht darf nur eingeschränkt werden, wenn es eine Rechtsgrundlage, einen Rechtfertigungsgrund und eine angemessene, verhältnismäßige Maßnahme gibt. Derzeit fehlt aber schon eine Rechtsgrundlage; es gibt keine gesetzliche Regelung, die es ausdrücklich erlauben würde, Abgeordneten Reisen zu verbieten.
beck-aktuell: Also selbst die Bundestagsverwaltung könnte nicht aus Sicherheitsgründen oder aufgrund nationaler Interessen ein Reiseverbot aussprechen?
Schulte: Nein, das ist nicht möglich. Man kann Empfehlungen aussprechen, aber der richtige Ort für solche Regelungen ist die politische Ebene, nicht die rechtliche. Das sollte zunächst politisch gelöst oder "abmoderiert" werden. Es sind aber schon rechtliche Konsequenzen denkbar.
Hierfür muss man unterscheiden: Private Reisen eines Abgeordneten sind völlig frei. Wohin jemand privat reist, ist allein seine Entscheidung – solange er dort nicht offiziell als Bundestagsabgeordneter auftritt. Dienstreisen für das Parlament sind dagegen gesetzlich geregelt, im Abgeordnetengesetz und dazugehörigen Ausführungsrichtlinien. Wer als Abgeordneter eine Reise machen will, muss sie vorher beantragen, begründen und genehmigen lassen, meist durch die Bundestagspräsidentin. Es gibt dann Berichtspflichten und Vorgaben zu Reiseverlauf, Zweck und Zeitraum.
"Die Fraktion hat das schärfste Schwert bei Sanktionen"
beck-aktuell: Das heißt, die Reise als Abgeordneter ist genehmigungsbedürftig und dies könnte im Umkehrschluss auch verweigert werden?
Schulte: Genau. Wird eine solche Dienstreise genehmigt, übernimmt der Bundestag auch die Kosten. Wenn die Genehmigung fehlt, muss der Abgeordnete sie privat bezahlen, erhält keine Kostenerstattung und darf auch nicht offiziell für das Parlament auftreten. Eine nachträgliche Sanktion im Sinne einer Strafe ist allerdings nicht vorgesehen.
beck-aktuell: Was ist, wenn der Abgeordnete im Namen der Fraktion reist oder gegen deren Willen handelt?
Schulte: Für Fraktionsreisen legt die Fraktion auch die Regeln fest und übernimmt die Kosten. Wenn jemand im Namen der Fraktion reist, muss das mit ihr abgestimmt sein. Die Fraktion kann auch Sanktionen verhängen, wenn ein Abgeordneter entgegen ihren politischen Zielen eine Reise unternimmt. Diese Möglichkeiten reichen vom Ordnungsgeld bis gar zum Fraktionsausschluss. Die Fraktion kann außerdem Ausschusssitze entziehen.
Gerade die Fraktion hat also das schärfste Schwert, wenn es um politische Konsequenzen geht: Sie kann mit innerparteilichen oder fraktionsinternen Sanktionen reagieren, wenn das Verhalten eines Mitglieds im Widerspruch zu den gemeinsamen Zielen steht.
beck-aktuell: Gab es schon einmal ähnliche Fälle, wo die Fraktion intervenierte?
Schulte: Ja, gerade auch im Zusammenhang mit Russland-Reisen von AfD-Abgeordneten. Das ist also ein bekanntes Problem in Reihen der Partei. Ein Beispiel ist der AfD-Bundestagsabgeordnete Matthias Moosdorf, gegen den wegen einer nicht abgestimmten Russlandreise ein Ordnungsgeld verhängt wurde. In Nordrhein-Westfalen wurde der AfD-Abgeordnete Christian Blex aufgrund einer nicht abgestimmten Reise nach Russland sogar zwischenzeitlich aus der Fraktion ausgeschlossen. Das ist die schärfste Sanktion, die bisher in einem solchen Zusammenhang ausgesprochen wurde.
"Die Freiheit des Mandats ist weitreichend, aber nicht schrankenlos"
beck-aktuell: Das Recht auf freie Mandatsausübung steht also über allem. Wie weit reicht dieses Recht genau, und gibt es Grenzen?
Schulte: Die Freiheit der Mandatsausübung ist sehr weitreichend und umfasst nahezu alle Tätigkeiten im Parlament: Teilnahmerechte, Auslandsreisen, Einstellung von Mitarbeitern, Rederechte und vieles mehr. Sie ist jedoch nicht schrankenlos. Einschränkungen sind möglich, brauchen aber eine klare Rechtsgrundlage und einen Rechtfertigungsgrund, etwa zum Schutz eines gleichrangigen Verfassungsgutes wie Geheimschutz oder die Sicherheit der Bundesrepublik.
beck-aktuell: Mit Blick auf Sicherheitsbedenken: Welche sensiblen Informationen haben Abgeordnete überhaupt und wie wird damit umgegangen?
Schulte: Abgeordnete haben Zugang zu hochsensiblen Informationen, insbesondere aus Ausschüssen wie dem Auswärtigen Ausschuss, dem Herr Frohnmaier angehört. Dort geht es etwa um Bundeswehreinsätze oder außenpolitische Fragen. Noch sensibler sind Ausschüsse wie das Parlamentarische Kontrollgremium, das die Geheimdienste überwacht.
Anders als normale Bürger oder Beamte benötigen Abgeordnete keine Sicherheitsüberprüfung, um Verschlusssachen einzusehen. Sie sind sogenannte "geborene Geheimnisträger" – ihnen wird kraft Mandats ein besonderes Vertrauen entgegengebracht. Es gibt zwar Regelungen, wie und wo Abgeordnete diese Unterlagen einsehen dürfen, aber sie haben grundsätzlich Zugriff auf alle Geheimhaltungsstufen. Das ist ein besonderer Ausdruck des Vertrauens, das unsere Verfassung in das frei gewählte Parlament setzt.
"Vertrauen ist Grundvoraussetzung – mit allen Konsequenzen"
beck-aktuell: Das ist ein hohes Maß an Vertrauen. Ist das letztlich nicht auch eine Verantwortung der Wählerinnen und Wähler, wen sie ins Parlament wählen und wem sie damit dieses Vertrauen aussprechen?
Schulte: Absolut. Wählen ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verantwortung. Wer ins Parlament gewählt wird, entscheidet über die Geschicke des Landes und erhält Zugang zu sensiblen Informationen. Als Wähler sollte man sich sehr genau überlegen, wem man dieses Vertrauen ausspricht.
beck-aktuell: Frau Dr. Schulte, vielen Dank für das Gespräch und Ihre Einschätzungen!
Dr. Henrike Schulte ist Rechtsanwältin bei Oppenländer Rechtsanwälte in Stuttgart. Als solche berät sie neben Unternehmen und Verbänden insbesondere Ministerien, Parlamente und Fraktionen im Öffentlichen Recht.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.
Das Gespräch hören Sie auch in der aktuellen Folge 70 von Gerechtigkeit & Loseblatt, dem Podcast von NJW und beck-aktuell.


