Es sollte nur eine "proletarische Abreibung" an diesem Abend des 14. Januar 1930 werden. Sie endete tödlich und markierte den Beginn einer nationalsozialistischen Heiligenverehrung des 22-jährigen Opfers. Seit zwei Monaten wohnte der Jurastudent und SA-Mann Horst Wessel zur Untermiete bei der Witwe Elisabeth Salm in der Großen Frankfurter Straße in Berlin (heute Karl-Marx-Allee). Nachdem es jedoch zu Streitigkeiten über die Miete gekommen war, eskalierte die Situation. Salm suchte die von Kommunisten und Rotfrontkämpfern besuchte Kneipe "von Baer" auf und hoffte, dort Hilfe bei den politischen Weggefährten ihres verstorbenen Mannes zu finden.
Die Mietstreitigkeiten von Frau Salm interessierten diese zunächst nicht, ehe der Name Horst Wessel fiel, der in diesen Kreisen rund um den Alexanderplatz als "Nazi-Häuptling" und "Arbeitermörder" bekannt war. Mehr als zehn Kommunisten machten sich auf den Weg zur Großen Frankfurter Straße 62. Vor der Zimmertür entsicherten zwei von ihnen, Albrecht Höhler und Erwin Rückert, ihre Pistolen. Als Wessel die Zimmertür öffnete, schoss Höhler ihm ins Gesicht. Beim Verlassen der Wohnung stieß der Schütze Höhler den schwerverletzten Wessel mit den Worten "Du weißt ja wofür" an. Wessel verstarb an den Folgen der Tat am 22. Februar 1930.
Pastorensohn, Jurastudent, SA-Mann
Wessel stammte aus einer westfälischen Pfarrersfamilie, besuchte das humanistische Gymnasium und studierte Rechtswissenschaften seit dem Sommersemester 1926 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Seine Schwester schrieb 1933 über ihren Bruder, dass er das juristische Fach gewählt habe, weil er von der "Erkenntnis der gewaltigen Bedeutung des Rechts als Grundpfeiler jedes geordneten Staatswesens" überzeugt gewesen sei. Auch habe er dem politischen Gegner "nicht das Feld" des Rechts überlassen wollen. Wessel verstand die Rechtsprechung als politisches Machtinstrument. In Bezug auf die 1924 hitzig debattierten Betrugs- und Korruptionsverfahren gegen die Kaufleute Iwan Baruch Kutisker und Julius Barmat ätzte Wessel: "Da bemüht man sich monatelang und jahrelang, diesen ostjüdischen Verbrechern Kutisker und Barmat nachzuweisen, dass sie den Staat um unzählige Millionen betrogen haben. Dazu brauche ich keine Rechtswissenschaften zu studieren, um zu erforschen, ob diese Subjekte Betrüger sind oder nicht."
Ein fleißiger Student war Wessel nicht, da er schon seit 1922 in verschiedenen bündischen und politischen Organisationen tätig war. Im Sommer 1924 ließ er sich für mehrere Wochen bei der "Schwarzen Reichswehr" ertüchtigen. Dies waren getarnte Wehrverbände, die die Rüstungsstriktionen des Versailler Vertrages unterliefen. Letztlich waren diese Organisationen für Wessel nur "Spielschulen". Als er am 7. Dezember 1926 in die NSDAP eintrat, war dies für ihn "politisches Erwachen".
Die NSDAP war zu dieser Zeit eine Kleinstpartei. 450 Mitglieder befehligte der neue "Gauleiter" Joseph Goebbels. Nach seiner Rückkehr vom NS-Parteitag 1927 (er war allein mit dem Fahrrad von Berlin nach Nürnberg gefahren), verschrieb sich Wessel vollkommen der Parteiarbeit. Er gehörte dem "Sturm 1" als "Straßenzellenleiter" an und war für Propaganda- und Werbefahrten mit beklebten Lastwagen durch Berlin und Umland verantwortlich. 1929 war er mit 56 Auftritten zweithäufigster Propagandaredner der Partei – nur Goebbels redete öfter und schrieb über Wessel: "Ein braver Junge, der mit fabelhaftem Idealismus spricht". Im Sommer 1929 brach Wessel nach sieben Semestern sein Jurastudium endgültig ab. Er lebte anschließend von Gelegenheitsjobs sowie von Unterstützungsleistungen seiner Mutter.
Der erste Prozess: "Übliche Milde für Marxisten"
Ende September 1930 begann der Strafprozess wegen Wessels Tod vor dem Schwurgericht in Berlin-Moabit. Der Prozess erzeugte wegen der aktuellen Wahlerfolge der NSDAP und der umfangreichen Prozessberichterstattung große öffentliche Aufmerksamkeit. Ab vier Uhr morgens wartete das neugierige Publikum vor dem Gericht, die Hauptstadtpresse schickte ihre besten Gerichtsreporterinnen und -reporter. Für das Berliner NS-Blatt "Angriff" berichtete Gauleiter Joseph Goebbels persönlich. Die kommunistische Rechtsunterstützung "Rote Hilfe" besorgte die Verteidiger. Die KPD wollte einen politischen Prozess orchestrieren. Das Urteil sollte in erster Linie als "Klassenjustiz" geframt werden können.
Der Schütze Albrecht Höhler sowie der ebenfalls bewaffnete Erwin Rückert erhielten sechs Jahre Zuchthaus, die übrigen siebten Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen fünf Jahren und 12 Monaten. Dazu gehörte auch die Zimmerwirtin Salm, die von der späteren DDR-Justizministerin Hilde Benjamin verteidigt wurde. Vier Angeklagte, die bei der Flucht behilflich waren, wurden wegen Begünstigung verurteilt. Der letzte Satz des Urteils bescheinigte allen Angeklagten, dass sie aus politischen Motiven gehandelt hätten. In einem parallelen Prozess gegen drei SA-Männer, die im Mai 1930 zwei Arbeiter erschossen hatten, wurden indes zwei Freisprüche ausgeworfen. Während die kommunistische Presse von "Racheurteilen des Systems" sprach, drohte der "Völkische Beobachter", dass eine befriedigende und ausreichende Sühne noch ausstehe.
Der zweite Prozess: "Der Gerechtigkeit freien Lauf lassen"
Ab 1933 erreichte die pseudoreligiöse Verklärung des NS-Blutzeugen eine neue Dimension. So inbrünstig die Nazis Horst Wessel heiligsprachen, in Romanen und Filmen verklärten, das Horst-Wessel-Lied zur Hymne des "Tausendjährigen Reiches" und Stadtviertel, Straßen sowie Häuser nach ihm benannten und ihm Denkmäler schufen, so unerbittlich war die Rache an den 1930 verurteilten Täterinnen und Tätern. Von den 16 Personen, die wegen ihrer nachgewiesenen oder vermuteten Mitwirkung an der Tötung Wessels verurteilt worden waren, starben mindestens acht während der NS-Diktatur durch Gewalt: Zwei wurden 1933 ermordet, darunter auch der Todesschütze Albrecht Höhler. Vier wurden in Konzentrationslagern getötet, vier weitere überlebten das Konzentrationslager als politische Häftlinge.
1934 wurden dann Peter Stoll, Sally Epstein und Hans Ziegler als Mitglieder der kommunistischen Sturmabteilung vor dem Schwurgericht II des Landgerichts Berlin angeklagt. Die Sturmabteilung befand sich in dem Lokal, in dem Wessels Vermieterin am Tatabend auftauchte. Die Anklage lautete auf gemeinschaftlichen Mord an Wessel. In ihren Aussagen gaben sie an, höchstens vor dem Haus "Schmiere" gestanden zu haben. Die Staatsanwaltschaft war vom Gegenteil überzeugt, denn ein Urteil wie 1930, das "eine [der Justiz] nicht zur Ehre gereichende Knochenerweichung liberalistischer Denkungsart" widerspiegele, wollte man vermeiden. Ziegler und Epstein wurden wegen der "bestialischen Tat" zum Tode verurteilt. Stoll als Gehilfe erhielt über sieben Jahren Zuchthaus. Das Reichsgericht verwarf im November 1934 die Revision.
Die Generalstaatsanwaltschaft strebte allerdings die Begnadigung der Verurteilten an, denn noch gab es Spuren von Gerechtigkeitsempfindungen in der deutschen Justiz: Es sei "menschlich unbefriedigend und müsste als ungerecht empfunden werden, Epstein und Ziegler das büßen zu lassen, was den Haupttätern gebührt hätte". Justizminister Gürtner und sein Staatssekretär Freisler befürworteten gegenüber Hitler aber den Vollzug der Strafe, die Begnadigungserlasse wurden in der Präsidialkanzlei vernichtet und der "Gerechtigkeit freien Lauf gelassen": Am 10. April 1935 wurden Epstein und Ziegler hingerichtet. Der Historiker und Wessel-Biograph Daniel Siemens stellte 2008 aufgrund des "Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte" den Antrag die Urteile gegen Ziegler, Epstein und Stoll aufzuheben, was die Berliner Staatsanwalt tat, weil das Urteil "ersichtlich politischen Zwecken" zur "Durchsetzung des nationalsozialistischen Unrechts" gedient habe.
"Die Fahne hoch, die Reihen festgeschlossen…"
Das Reichsgericht beschäftigte sich später noch einmal mit Horst Wessel. Es entschied am 2. Dezember 1936 (RGZ 153, 71), dass die Melodie des Horst-Wessel-Liedes grundsätzlich urheberrechtlich schutzwürdig sei ("[…] entstanden ist packendes, fortreißendes, begeisterndes Kampflied"). Dieses Werk beschäftigt heute in seiner Strafwürdigkeit die Gerichte. Als "Kennzeichnen einer verfassungswidrigen Organisation" wird vom BVerfG schon die Benutzung der Textzeile "Die Fahne hoch" eingestuft: Die Gefahr der "Wiederbelebung nationalsozialistischer Tendenzen infolge des Gebrauchs entsprechend assoziierungsgeeigneter Symbole" sei schon dann gegeben, "wenn der Titel sowie derart markante Textteile der parteiamtlichen Hymne der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) wiedergegeben werden. Titel und Textteil haben Wiedererkennungs- und Identifikationsfunktion. Ein um die Existenz und die Hintergründe des Horst-Wessel-Liedes wissender Beobachter wird auch die kurze Textpassage in einen Gesamtkontext einordnen können, so dass - nach einer Gesamtbetrachtung - die Gefahr der Wiederbelebung nationalsozialistischer Bestrebungen besteht.“ (BVerfG, Beschl. v. 18.05.2009 - 2 BvR 2202/08).
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Mitglied des Vorstandes des Forum Justizgeschichte.