Hongkongs Regierung zieht umstrittenes Auslieferungsgesetz zurück

Nach monatelangen Protesten hat Hongkongs Regierung den Entwurf für das umstrittene Gesetz für Auslieferungen nach China jetzt komplett zurückgezogen. Das teilte Regierungschefin Carrie Lam am 04.09.2019 nach einem Treffen mit Abgeordneten mit. Mit dem formellen Rückzug erfüllt Lam eine Hauptforderung der Demonstranten und demonstriert Entgegenkommen. 

Gesetz hätte Auslieferungen nach China erlaubt

Das Gesetz hätte Auslieferungen von verdächtigten Personen nach China erlaubt, obwohl dessen Justizsystem nicht unabhängig ist und häufig als Werkzeug politischer Verfolgung benutzt wird. Auch warnen Kritiker vor Folter. Die Proteste gegen das Gesetz begannen Ende April. Mitte Juni legte Lam den Entwurf auf Eis, erklärte ihn später für "gestorben", zog ihn aber nicht komplett zurück.

Aktivisten fordern Lams Rücktritt 

In ersten Reaktionen äußerten Aktivisten ihre Erleichterung, machten aber deutlich, dass ihnen der Rückzug nicht ausreicht. Die weiteren vier Forderungen der Demonstranten sind der Rücktritt der Regierungschefin, eine unabhängige Untersuchung übermäßiger Polizeigewalt, die Freilassung von Festgenommenen und eine Rücknahme des Vorwurfs des "Aufruhrs". Viele Demonstranten fordern darüberhinaus noch politische Reformen und wirklich freie Wahlen.

Civil Human Rights Front: Untersuchung der Polizeigewalt notwendig

"Wenn sie die Sprechchöre der Leute in den Märschen hören, dann sind es die fünf Forderungen und nichts weniger", sagte Bonnie Leung von der Civil Human Rights Front, die große Demonstrationen organisiert hatte. Vielen dürfte der Rückzug des Gesetzes nicht weit genug gehen, wenn es nicht eine Untersuchung der Polizeigewalt gebe. "Ohne eine unabhängige Untersuchung kann unsere Gesellschaft einfach nicht voranschreiten, weil wir jetzt sehen, dass die Polizei jeden Tag wahllos Leute verprügelt", sagte Leung.

Offener Brief an Merkel

Hongkongs Protestführer baten Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor ihrer China-Reise diese Woche um ein Treffen. In einem offenen Brief an Merkel, der der "Bild"-Zeitung vorliegt, warnt der bekannte Aktivist Joshua Wong vor einer Eskalation. "Uns steht eine diktatorische Macht gegenüber, die keine freiheitlichen Grundrechte zulässt und immer mehr gewalttätige Maßnahmen anwendet, mit Tendenz zu einem neuen Massaker wie am Tian'anmen-Platz." 1989 schlugen Soldaten am Platz des Himmlischen Friedens in Peking die friedliche Demokratiebewegung blutig nieder.

Bislang schwerste Krise für Hongkong

Die andauernden Proteste haben Hongkong in seine bislang schwerste Krise gestürzt. Zuletzt wurde 13 Wochenenden in Folge demonstriert - zum Teil mit Hunderttausenden bis zu mehr als einer Million Teilnehmern. Die Proteste endeten häufig in Zusammenstößen zwischen radikalen Demonstranten und der Polizei. Die sieben Millionen Hongkonger befürchten steigenden Einfluss der chinesischen Regierung auf Hongkong und eine Beschneidung ihrer Freiheitsrechte.

Merkel soll Situation in Hongkong ansprechen

In dem offenen Brief sprechen die Protestführer Merkel auf ihre DDR-Vergangenheit an. Da sie aus erster Hand Erfahrungen mit diktatorischen Regimen habe, könne sie sich gut in die Situation der Protestler hineinversetzen. Merkel solle deshalb die Situation in Hongkong bei ihren Gesprächen am 06.09.2019 in Peking ansprechen. Die Kanzlerin wird am 05.09.2019 nach China fliegen und am 06.09.2019 mit Regierungschef Li Keqiang zusammenkommen.

Forderungen auch aus Deutschland

Auch in Deutschland werden Rufe laut, dass Merkel mäßigend auf Peking einwirken soll. Der außenpolitische Sprecher der SPD, Nils Schmid, sagte der "Welt", Merkel müsse klarmachen, dass eine gewaltsame Niederschlagung nicht akzeptabel sei. Jürgen Hardt (CDU), Außenpolitiker der Unionsfraktion, sagte der Zeitung, dass Merkel die verbrieften Freiheitsrechte auf eine Art ansprechen werde, "die den Chinesen eine gesichtswahrende, friedliche Reaktion ermöglicht".

Baerbock: Konsequenzen für wirtschaftliche Kooperation klarmachen 

Die Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte in der "Rheinischen Post", dass Merkel klarmachen müsse, dass Chinas Druck auf Hongkong Folgen für die wirtschaftliche Kooperation mit Deutschland habe. Der Vorsitzende des Petitionsausschusses, Marian Wendt (CDU), sagte, Peking müsse sich zu seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen bekennen, wonach für Hongkong "ein Land, zwei Systeme" gelte: "Wenn wir dies nicht einfordern, machen wir nur noch Kotau vor Peking."

Hongkonger genießen mehr Rechte

Die frühere britische Kronkolonie wird seit der Rückgabe 1997 an China in ihrem eigenen Territorium mit einem eigenen Grundgesetz nach dem Prinzip "ein Land, zwei Systeme" autonom regiert. Die Hongkonger stehen unter Chinas Souveränität, genießen aber – anders als die Menschen in der kommunistischen Volksrepublik – mehr Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Bereits mehr als 1.100 Menschen festgenommen

Nach den schweren Ausschreitungen am Wochenende in Hongkong kam es in der Nacht zum 04.09.2019 zu neuen Zwischenfällen. Die Polizei räumte gegen Mitternacht eine Gruppe von Demonstranten von einem Platz vor der Polizeistation im Stadtviertel Mong Kok, wie der Sender RTHK berichtete. In der U-Bahn-Station Prince Edward gab es eine Festnahme. Bei beiden Polizeieinsätzen wurde Pfefferspray eingesetzt. Bei den Protesten und Ausschreitungen sind insgesamt bereits mehr als 1.100 Menschen festgenommen worden.

Redaktion beck-aktuell, Erin Hale und Andreas Landwehr, 4. September 2019 (dpa).

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