Hitzige Debatte auf Anwaltstag: Die Macht der Internet-Plattformen und die Eingriffe des Staates
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Gefährden soziale Plattformen Meinungsfreiheit und Demokratie – oder zwingt der Staat sie mit Hilfe der Trusted Flagger zur Zensur? Wohl keine der zahlreichen Veranstaltungen auf dem Deutschen Anwaltstag 2025 verlief so hitzig und gereizt.

Nicht nur, dass das Podium mit neun Teilnehmern und Teilnehmerinnen ungewöhnlich groß war: Rechtsanwalt Chan-jo Jun, der das Eröffnungsreferat hielt, hatte noch einen weiteren "Diskutanten" mitgebracht – Elon Musk, den Eigentümer von X (vormals Twitter), den er als Pappkameraden mitbrachte und noch dazu stellte. Und weil die Veranstalter bereits mit dermaßen heftigen Kontroversen gerechnet hatten, dass ihnen im Vorfeld Mediatoren ihre Hilfe angeboten hatten, warf er wie vor einem unterhaltsamem Kinobesuch erst einmal symbolisch eine große Tüte Popcorn ins Publikum. Der Jurist vertritt im Internet geschmähte Menschen: Etwa die Grünen-Politikerin Renate Künast und einen syrischen Flüchtling, von dem ein Selfie mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Facebook gelandet war.

Juns Kernthese: Die größte Gefahr für die Meinungsfreiheit gehe von den Betreibern sozialer Netzwerke aus, die aus kommerziellem Interesse mit ihren Algorithmen bevorzugt solche Inhalte ausspielten, die gemeinhin als "Hass und Hetze" bezeichnet werden. Dagegen gehe der Staat zu Recht mit dem europäischen Digital Services Act (DSA – zu deutsch: Gesetz über digitale Dienste) vor. "Denn wenn Menschen beleidigt und bedroht werden, wird die Meinungsfreiheit verengt." Ihnen gehe der Raum zur öffentlichen Debatte verloren, daher müssten die Plattformen für einen "sicheren Ort für den Diskurs" sorgen. Und dafür seien die umstrittenen Trusted Flagger ("vertrauenswürdige Hinweisgeber") ein wichtiger Baustein des DSA von denen die Bundesnetzagentur bisher vieren eine Lizenz erteilt habe: "Die haben keinen Löschknopf, sondern melden den Anbietern nur vermutlich rechtswidrige Inhalte, die dann vorrangig geprüft werden müssten."

"Gegen den Nanny-Staat"

Entschieden vertrat Rechtsanwalt Ralf Höcker die Gegenthese, wenngleich seine Kanzlei durchaus häufig und hartnäckig für Betroffene etwa von Falschmeldungen eintritt. "Benötigen wir denn einen Nanny-Staat, der uns Informationen vorenthält, weil er sich um unser Wohlbefinden sorgt?" Löschen, Sperren oder Runterdimmen (das sogenannte Shadow Banning) von Posts und Accounts führe zu einer "Schere in den Köpfen" und werde institutionalisiert. Menschen trauten sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. Hass sei jedoch zunächst einmal nur ein berechtigtes Gefühl, und auch Hetze falle nur in bestimmten Fällen unter einen Straftatbestand.

Ähnlich sei es bei Lügen – heutzutage gerne als Fake News oder Desinformation deklariert. So habe es vor wenigen Jahren als Verschwörungstheorie gegolten, wenn behauptet wurde, das Corona-Virus sei aus einem chinesischen Labor entwichen. Heutzutage halte sogar der BND dies für wahrscheinlich. "Der dümmste anzunehmende Nutzer darf nicht der Maßstab sein", sagte Höcker. "Lassen Sie uns erwachsen werden – wir haben verlernt, mit so etwas umzugehen." Sein Appell: "Weg mit staatlich finanzierten Trusted Flaggern, die mitunter aus eigenen Interessen gegen etwas vorgehen!"

"Straftaten unterbinden"

Das brachte Josephine Ballon, Geschäftsführerin der Anfang Juni als Trusted Flagger anerkannten gemeinnützigen GmbH "HateAid", ziemlich auf die Palme. Steuergelder verwende ihre Organisation ohnehin nur für Aufklärungsprojekte und Ähnliches, nicht aber für die Arbeit als Meldestelle. Ohnehin machten Fälle wie der Beistand für Künast und deren Parteifreund Robert Habeck, der in einer verfremdeten Haarwasserreklame als "Schwachkopf" tituliert und mit einem Bahnhofsalkoholiker verglichen worden war, nur einen Bruchteil ihrer Fälle aus. Sonst gehe es um Straftatbestände wie Volksverhetzungen, Hakenkreuz-Propaganda, verfolgbare Beleidigungen oder Bedrohungen nicht prominenter Betroffener. Ballon legte Wert darauf, dass "HateAid" laut DSA nur solche Internet-Veröffentlichungen melden dürfe, die sie als rechtswidrig einstufe. "Wir mussten sogar Examenszeugnisse einschicken, um nachzuweisen, dass wir nur juristisch geschultes Personal wie etwa Diplomjuristen dafür einsetzen." Zudem habe der DSA zugleich die Rechte der Nutzer gestärkt, indem es nun ein geregeltes Verfahren für Widersprüche gegen unberechtigte Sanktionen gebe.

Rechtsanwalt Peter Hense aus der Kanzlei Spirit Legal ging sogar noch weiter – solche "Torwächter" reichten nicht im Kampf gegen die "DDoS-Angriffe auf unseren Rechtsstaat": Die Anbieter gäben nur vor, illegale Inhalte nicht ausreichend ausfiltern zu können. Seine Forderung lautete: "Weg mit der Haftungsprivilegierung für die Inhalte von Dritten!" Hense nannte die aktuelle Rechtslage ein "Compliance-Theater", bei dem der europäische Gesetzgeber die Verantwortung zurück auf die Zivilgesellschaft verlagert habe und strengere Regelungen durch die Mitgliedstaaten verböte. Dennoch reagiere etwa TikTok nicht auf Hinweise selbst beim Mobbing von Kindern, die die App auf ihrem Handy hätten.

"Freiheit in Gefahr"

Winfried Veil, lange Jahre im Innen- und nun im neuen Digitalministerium tätig, sah dies als Privatmann ganz anders. "Man darf hassen, lügen oder behaupten, die Erde sei eine Scheibe und Covid gebe es nicht." Diese Freiheit sei ein großes Glück für unsere Gesellschaft, und die sei nun in Gefahr. Die Abwägung geschehe bei verpönten Inhalten meist in einer besonders großen Grauzone. Und die Zertifizierungsbedingungen der Bundesnetzagentur für Trusted Flagger seien so unscharf, dass sie ein "Dokument des Grauens" seien: "Das Ziel ist Sauberkeitshygiene", so Veil. Bei mehrfachen Verstößen von Nutzern schreibe der DSA den Providern sogar vor, sie "mundtot" zu machen – eine Vorverurteilung für die Zukunft. All dies geschehe in einem Zusammenwirkungen von Privaten, Halbprivaten und Staat. Höcker ergänzte, dass es bei besonders großen Providern keineswegs nur um rechtswidrige Inhalte gehe: Diese müssten auch "systemische Risiken" beobachten, bewerten und verringern. Beide setzten deshalb darauf, der Justiz die Verhinderung unzulässiger Posts zu überlassen – was anderen Podiumsteilnehmern viel zu langwierig schiene.

Die Atmosphäre in der zweistündigen Veranstaltung empfand jemand aus dem Publikum als derart aufgeheizt, dass er in der Schlussrunde von einer "kindischen und unsachlichen Scheindebatte" sprach. Rechtsanwalt Niko Härting als der präsenteste von (allen Ernstes zugleich) vier Moderatoren musste wiederholt ungewöhnlich streng gegenüber Podiumsteilnehmern wie auch einer Zwischenruferin einschreiten. Ko-Moderator Jens Klaus Fusbahn aus der Kanzlei Kötz Fusbahn schloss mit einem bangen Blick in die Zukunft: "Was könnten wir wohl tun, wenn Plattformen mit amerikanischer Unterstützung auf Bußgelder aus der EU einfach nicht reagieren?"

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 6. Juni 2025.

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