Das Gutachten über die NSDAP von 1930 war eindeutig. Auf 97 Seiten kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass "die NSDAP eine staatsfeindliche Verbindung im Sinne des § 129 StGB" sei, "die die Bestrebung verfolgt, die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform zu untergraben (§ 4 Nr. RepSchGes.)".
Die Autoren des Gutachtens waren der Berliner Polizeivizepräsident Bernhard Weiß, der leitende Beamte in der Abteilung IA (Politische Polizei) des Berliner Polizeipräsidiums, Hans Schoch, und der Kriminalkommissar Johannes Stumm, ebenfalls in der Abteilung IA in der Inspektion Rechtsradikale Parteien und Organisationen. Unterstützt wurden sie vom Justiziar der Polizeiabteilung im preußischen Innenministerium, Robert Kempner.
Die vier Gutachter kamen außerdem zu dem Schluss, dass die NSDAP ein hochverräterisches Unternehmen im Sinne des § 86 RStGB sei. Der Zweck der NSDAP sei "die gewaltsame Änderung der Verfassung". Das Gutachten leiteten sie an die Oberreichsanwaltschaft weiter, doch ihre Warnung blieb ungehört – zu fortgeschritten war bereits der Einfluss der NS-Sympathisanten.
Hitler: Es werden "Köpfe in den Sand rollen"
Beobachtet wurden die Rechtsextremisten schon lange. Anlass dafür war der sogenannte Ulmer Reichswehrprozess, für den die Innenministerien des Reichs und Preußens Material über die NSDAP zusammenstellten. Laut Robert Kempner erreichte die NSDAP seit ihrem schwachen Abschneiden bei der Reichstagwahl 1928 in verschiedenen Landtagswahlen erhebliche Zuwächse. In Thüringen trat sie Anfang 1930 erstmals in eine Regierung ein. Dort lieferte sich nicht nur Sprachschlachten mit der politischen Linken, sondern agitierte auch aggressiv gegen den Young-Plan, der die Reparationszahlungen des Deutschen Reiches neu regeln sollte.
Dadurch wurden auch drei Reichswehroffiziere auf die NSDAP aufmerksam. Sie nahmen Kontakt mit NS-Funktionären in München auf und warben in der Ulmer Garnison für die Umsturzpläne der Rechtsextremisten. Im März 1930 wurden die drei wegen "des Versuchs einer nationalsozialistischen Zellenbildung innerhalb der Reichswehr" verhaftet und schließlich vor dem Reichsgericht im Herbst 1930 angeklagt (Ulmer Reichswehrprozess).
In diesem Prozess trat Adolf Hitler als Zeuge auf und konnte in der wohlwollenden Befragung des Gerichts seinen so genannten Legalitätseid zu Protokoll geben. Er gab an, dass die NSDAP nur mit legalen Mitteln politisch agieren werde: "Wir treten in die gesetzlichen Körperschaften ein und werden auf diese Weise unsere Partei zum ausschlaggebenden Faktor machen." Später würden aber "Köpfe in den Sand rollen". Der anwesende stellvertretende Oberreichsanwalt Nagel nahm diese Ankündigung hin, obwohl er wegen der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens nach § 86 des Reichsstrafgesetzbuches ein Strafverfahren hätte einleiten müssen. Dieser Umstand zeigt, wie weit NS-Sympathisanten schon in Führungspositionen der Justiz vorgedrungen waren.
Wirtschaftsaufschwung sollte NSDAP entzaubern
Doch noch waren die damaligen "Verfassungsschützer" nicht alarmiert. Im April 1930 kamen die zuständigen Mitarbeiter aus dem Reich und den Ländern in Berlin zusammen und berieten unter anderem die Entwicklung der NSDAP. Die auf dieser Zusammenkunft vorgestellte Analyse der NSDAP im Jahr 1929 beschäftigte sich mit der Einstellung der Partei zum Kommunismus, zum politischen Mord sowie zum Weimarer Staat. Die Beamten analysierten außerdem die Finanzen der Nazis, die Wahlerfolge, die nationalsozialistische Presse, die Beziehungen zur Bauernbewegung, zu anderen Rechtsorganisationen sowie zur Reichswehr und Polizei. Sie beschäftigten sich mit der Agitation der NSDAP bei Schülern und Studenten, Lehrern und Ärzten sowie ihrem "Kampf" zur Gewinnung der Arbeiterschaft.
Die Gefahren durch die SA, der wachsende Einfluss in der "Jugend", der "Landbevölkerung" und der "Intelligenz" wurde zwar mit Sorge betrachtet und es wurde vor "Zersetzungsversuchen" bei Reichswehr und Polizei gewarnt. Allerdings gingen die Beamten abschließend davon aus, dass bei einem Wirtschaftsaufschwung von der NSDAP "nur ein Häuflein Unentwegter" übrigbleiben werde.
NSDAP als staatsfeindliche Verbindung
Ende August 1930 wurde dann das von Kempner, Weiß, Stumm und Schoch verfasste Gutachten im preußischen Innenministerium fertiggestellt. Es sah die NSDAP als eine Partei neuen Typs an, nämlich als politische Partei und politischen Bund. Sie sei straff organisatorisch geführt, verlange Ein- und Unterordnung, aktive Tätigkeit und engste persönliche Beziehungen untereinander. Sie sei daher eine "staatsfeindliche Verbindung" im Sinne der §§ 128 und 129 RStGB.
Das gelte auch deshalb, weil aus dutzenden Äußerungen von führenden Parteifunktionären deutlich werde, dass sie sich "vereins- und versammlungspolizeilichen" Maßregeln der Verwaltung nicht fügen werde, insbesondere nicht einem Parteiverbot. Die NSDAP als "staatsfeindliche Verbindung" untergrabe die verfassungsmäßige republikanische Staatsform des Reichs durch "Beschimpfung, Verleumdung und Herabsetzung der Deutschen Republik, ihrer Repräsentanten, Symbole und charakteristischen Einrichtungen".
Dies stelle "nach Zahl, Art und Urheber ein planmäßiges, gegen die Grundlagen der staatlichen Ordnung gerichtetes Vorgehen dar, das bewußt darauf abzielt und auch geeignet ist, die verfassungsmäßige Staatsform […] zu erschüttern und so den Boden für den von der NSDAP geplanten völligen Umbau der verfassungsmäßigen Zustände vorzubereiten", heißt es in dem Gutachten weiter. Anhand von Äußerungen Hitlers, Fricks, Goebbels sowie weiterer NSDAP-Abgeordneter wurde der Nachweis geführt, dass die Partei eine "hochverräterische Verbindung" sei.
Die Machtmittel des Staates (Reichswehr und Polizei) sollen "zersetzt" werden, SA und SS bildeten "eigene revolutionäre Kampftruppen" und die Legalitätsbekundungen Hitlers, Goebbels oder Fricks seien (wie ähnliche Äußerungen von KPD-Funktionären) "taktische Schutzbehauptungen". Im Ergebnis sei die NSDAP "auf eine Revolution mit gewaltsamen Mitteln" aus, "deren Ziel die Errichtung des nationalsozialistischen ‚Dritten Reiches‘" sei. Die Beseitigung der Demokratie und die Errichtung der Diktatur sei "nach Art und Ziel hinreichend bestimmt", so das Gutachten. Der "Wille der NSDAP" zum Umsturz stehe "unerschütterlich fest". Diese Aktivitäten stellten ein hochverräterisches Unternehmen im Sinne des § 86 RStGB dar. Die NSDAP sei damit eine staatsfeindliche Verbindung (§ 129 RStGB). Sie untergrabe die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Ordnung (§ 4 Nr. 1 des Republikschutzgesetzes).
Gutachten verpuffte: Keine Anklage gegen Hitler
Die Gutachter blieben einsame und vergebliche Warner. Ende August 1930 wurde die Denkschrift an den Oberreichsanwalt Karl August Werner (selbst NS-Sympathisant und ab 1933 Parteimitglied) übermittelt. Es sollte Anklage gegen Hitler und andere Nazis erhoben werden. Werner ließ allerdings im Sommer 1931 verkünden, dass die Ermittlungen gegen Hitler noch andauern würden. Er stellte sie 1932 ergebnislos ein. Mitte September 1930 holten die Nazis über 18% der Stimmen bei der Reichstagswahl. Im November 1930 schrieb Reichswehrminister Groener an Reichskanzler Brüning, dass die Frage nach der Illegalität der NSDAP nicht eindeutig beantwortet werden könne.
In einer Kabinettsitzung Mitte Dezember 1930 vertrat Brüning die Auffassung, dass das Reichskabinett jetzt noch nicht zu der Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP endgültig Stellung nehmen könne. Auf jeden Fall müsse die Reichsregierung sich davor hüten, dieselben falschen Methoden gegen die Nationalsozialisten anzuwenden, welche in der Vorkriegszeit gegen die Sozialdemokraten angewendet worden seien: Eine folgenreiche Fehleinschätzung.
Ein letztes Mal machte die preußische Staatsregierung im Februar 1932 einen Vorstoß. Ministerpräsident Otto Braun schrieb persönlich einen Brief dazu und erläuterte, wie sich SA und SS auf den Staatsstreich vorbereiteten. Der Brief kam an. Ein Mitarbeiter des Reichskanzlers vermerkte darauf handschriftlich, Brüning wünsche, nicht zu antworten. Mit dieser Haltung, so urteilt Kempner, war das Schicksal der Weimarer Republik besiegelt. Als er 1983 das preußische Gutachten veröffentlichte, nannte er sein Buch treffend: "Der verpasste Nazi-Stopp".
Franz Josef Düwell ist Vorsitzender Richter a. D. am Bundesarbeitsgericht und Präsident der Arnold-Freymuth-Gesellschaft sowie Vorsitzender der Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Arbeitsrecht.
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Mitglied des Vorstandes des "Forum Justizgeschichte".
Das Gutachten ist hier online nachlesbar.