beck-aktuell: Wie entstand die Idee, eine Feminist Law Clinic zu gründen?
Karla Steeb: Im Jurastudium werden bestimmte Rechtsgebiete, wie z.B. das Sexualstrafrecht, nicht vermittelt. Auch Themen die speziell FINTA-Personen und queere Personen betreffen, fehlen einfach (FINTA ist eine Abkürzung für "Frau, inter, non-binary, trans* und agender people"). Unser Ziel ist es, dafür einen Ausgleich zu schaffen. Wir sehen es kritisch, dass in Strafrecht-Vorlesungen und AGs zwar auf der einen Seite sehr brutale Fälle von Mord, Totschlag oder gefährlicher Körperverletzung behandelt werden, das Sexualstrafrecht auf der anderen Seite aber total hinten runterfällt. Wir finden es wichtig, dass Studierende in diesem Bereich geschult werden, und das wollen wir mit der Feminist Law Clinic leisten.
beck-aktuell: Und dazu braucht es eine feministische Law Clinic?
Lilith Rein: Jede dritte Frau in Deutschland ist im Lauf ihres Lebens mit sexualisierter Gewalt konfrontiert. Das ist die Realität. Hier gibt es einfach Rechtsberatungsbedarf. Die bisherigen Lehrangebote sind nicht spezifisch genug, um auf die rechtlichen Herausforderungen von FINTA und queeren Personen im Alltag eingehen zu können.
Zudem gibt es für sie massive Barrieren beim Zugang zu den erforderlichen Informationen und beim Zugang zum Recht überhaupt. Das sieht man auch an den Zahlen: Nur 15% der Frauen, die vergewaltigt wurden, erstatten Anzeige. Leider kennen wir solche Fälle auch aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis. Für uns hat sich daher gar nicht erst die Frage gestellt, ob es eine feministische Law Clinic braucht. Weil das nötige Wissen dazu in der Lehre an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten nicht vorkommt, mussten wir das einfach selbst in die Hand nehmen.
beck-aktuell: Soll das Angebot sich denn nur an FINTA richten oder steht es allen Personen offen?
Rein: Unser Angebot richtet sich primär an FINTA und queere Personen, die rechtliche Unterstützung brauchen. Wir möchten vor allem auf Diskriminierung und sexuelle Gewalt aufmerksam machen und über diese Tatbestände lehren und lernen. Grundsätzlich steht unsere Rechtsberatung aber jeder Person offen, die Anliegen aus diesen Rechtsbereichen hat.
beck-aktuell: Das Projekt soll schon im Januar 2025 anlaufen. Wie weit sind Sie und was ist noch zu tun?
Lilian van Rey: Die Law Clinic befindet sich noch im Aufbau. Bei uns engagieren sich bereits etwa 20 ehrenamtliche Studierende. Daneben gibt es hunderte Interessentinnen und Interessenten. Als nächstes organisieren wir im Dezember unser erstes Ausbildungswochenende und sind dazu in Kontakt mit Volljuristinnen und Volljuristen getreten, die die feministische Rechtsarbeit besonders fördern. Wir konnten sehr viele spannende Personen für Vorträge gewinnen.
Daneben arbeiten wir daran, Volljuristinnen und Volljuristen für die Supervision, also die Aufsicht und Reflektion unserer Beratung, zu finden. Eine solche Supervision ist vom Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (RDG) vorgeschrieben. Gleichzeitig bauen wir auch unseren Beirat auf. Die Law Clinic ist allerdings nicht direkt an die Uni angebunden, weil wir deutschlandweit aktiv werden wollen.
beck-aktuell: Worum wird es beim Ausbildungswochenende genau gehen?
Steeb: An unserem Ausbildungswochenende, das in Köln und online stattfindet, bilden wir alle Interessierten zu Rechtsberaterinnen und Rechtsberatern für feministische Rechtsthemen aus. Es wird praxisorientierte Vorträge zu unseren Kernthemen geben, das heißt zum Sexualstrafrecht, aber auch zum Trennungsunterhalt und dem neuen Selbstbestimmungsgesetz. Für das Ausbildungswochenende haben sich bereits über 200 Teilnehmende angemeldet. Es sind Jurastudierende aus ganz Deutschland, Diese können dann die Beratung in Köln und an anderen wachsenden Standorten vor Ort oder online übernehmen.
Bei späteren Veranstaltungen werden noch andere Themen hinzukommen, z.B. das Antidiskriminierungsrecht im Arbeitsrecht oder speziellere Themen im Familienrecht. Die Vortragenden, die wir gewinnen konnten, sind vor allem Anwältinnen und Anwälte, die einen praktischen Bezug zur Materie haben.
beck-aktuell: Wie wird das Projekt finanziert?
Van Rey: Wir haben schon erfolgreich eine Crowdfunding-Kampagne organisiert, durch die wir die ersten geplanten Aktivitäten verwirklichen können. Außerdem haben wir Kontakt zu lokalen Organisationen aufgenommen.
beck-aktuell: Neben der Rechtsberatung, dem klassischen Aufgabenfeld einer Law Clinic, wollen Sie sich auch politisch für mehr Awareness und gegen Diskriminierung einsetzen. Wie soll das genau aussehen?
Lilith: Im Kern setzen wir uns für die Umsetzung des geltenden Rechts ein. Art. 3 Abs. 2 GG postuliert die Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Gesetz. FINTA- und queere Personen dürfen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität nicht benachteiligt werden. Das ist in unseren Augen erstmal nicht politisch.
Selbstverständlich wollen wir aber auch über eine mögliche Fortentwicklung des geltenden Rechts sprechen und über rechtsphilosophische Fragen nachdenken. Wir wollen zum Beispiel schauen, wie das Sexualstrafrecht in anderen EU-Mitgliedstaaten aussieht. Wo gibt es eine andere Konsensregelung als in Deutschland? An welcher Rechtsordnung kann man sich ein Beispiel nehmen? Das wird auch einen großen Teil der Ausbildung der Beraterinnen und Berater einnehmen.
beck-aktuell: An welchen Rechtsordnungen könnte Deutschland sich aus feministischer Sicht beispielsweise orientieren?
Rein: Fortschrittlichere Regeln finden sich fast überall in der EU. Im Vergleich zu anderen Ländern hinkt Deutschland tatsächlich hinterher, was z.B. das Sexualstrafrecht angeht. Was die Konsensregelung angeht, sind viele EU-Länder weiter. In Frankreich ist außerdem das Recht auf Abtreibung in der Verfassung postuliert. In Spanien gibt es ganz andere Regeln dazu, wie Sexualstraftäter bestraft und diese Strafen vollstreckt werden. Estland ist auch ein sehr gutes Vorbild. Eigentlich kann Deutschland nur von den anderen lernen und ist da leider überhaupt nicht fortschrittlich.
beck-aktuell: Wie sahen die Reaktionen auf die Gründung der Feminist Law Clinic außerhalb Ihrer Unterstützerkreise aus? Sind Sie auch auf Widerstand gestoßen?
Van Rey: Zum Glück erfahren wir mit unserer Vision viel Zuspruch und Unterstützung aus juristischen Kreisen. Natürlich gibt es – wie bei jedem progressiven und feministischen Ansatz – auch kritische Stimmen. Manche Menschen fühlen sich durch die Stärkung marginalisierter Gruppen in ihrer Position angegriffen, weil sie eine Verschiebung von Machtverhältnissen befürchten. Doch genau das ist der Kern unserer Arbeit: Gerechtigkeit zu schaffen, indem wir den Zugang zu rechtlichem Beistand für alle verbessern.
beck-aktuell: Wie geht es jetzt weiter?
Steeb: Zunächst einmal steht ja Anfang Dezember unser Ausbildungswochenende an. Daneben ist unser Plan, dass wir ab Januar 2025 mit der Rechtsberatung starten können. Deshalb sind wir auch gerade dabei, unsere psychologischen Betreuungsstrukturen aufzubauen, damit wir diese mit der Rechtsberatung kombinieren können. Uns ist wichtig, dass es ein Auffangnetz von Psychologinnen und Psychologen gibt, da die Rechtsuchenden bei der Beratung oft über schwer belastende Erfahrungen berichten müssen.
Rein: Danach wollen wir versuchen, das Projekt deutschlandweit zu etablieren. Es haben sich schon viele Unterstützerinnen und Unterstützer gefunden, die die Feminist Law Clinic in Kiel, in München und zahlreichen anderen Städten etablieren wollen. Die Rechtsberatung werden wir aufgrund unserer dezentralen Struktur erst einmal größtenteils online halten, da wir mit einer Präsenzberatung noch nicht alle erreichen können. Wir sind außerdem schon dabei, die nächsten Ausbildungskurse im Sommersemester 2025 an der Uni Köln zu planen und wollen dabei auch eine entsprechende Schlüsselqualifikation für Jurastudierende ermöglichen.
beck-aktuell: Wie müsste die juristische Ausbildung in Deutschland aus Ihrer Sicht optimalerweise aussehen?
Steeb: Unserer Ansicht nach bräuchte es eine ganzheitliche Reform. Das fängt bei den offensichtlichsten Sachen an, wie zum Beispiel, dass das Sexualstrafrecht auch in der Lehre behandelt wird. Letztendlich braucht es aber auch eine Veränderung der Lehrstrukturen insgesamt. An vielen juristischen Fakultäten gibt es einen konservativen Lehrstil. Das fängt schon bei der Gestaltung der Ausbildungsfälle an, die häufig überkommene Rollenklischees bedienen. Es braucht ein Bewusstsein für Diskriminierung und Diskriminierungspotenzial in der juristischen Ausbildung und Praxis und dort überall den Willen zur Veränderung.
Rein: Wünschenswert wäre vor allem, dass man die benannten Rechtsgebiete in die Forschung und Lehre aufnimmt, sodass diese stärker fortgebildet werden können. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung entwickeln sich ständig weiter. Dann schaut man sich das Sexualstrafrecht an und wird ins letzte Jahrtausend zurückgeworfen. Zum einen fehlt es an den nötigen Vorschriften zum Schutz Betroffener, zum anderen gibt es Umsetzungsprobleme bei den bestehenden Regeln. Und unser Wunsch wäre, dass man an den Universitäten anfängt, darüber zu sprechen.
Das Interview führte Manuel Leidinger, freier Journalist, Volljurist und Mediator in Köln.