Getwitterter Stimmzettel: BVerfG verwirft Organklage von AfD-Abgeordnetem gegen Ordnungsgeld

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Organstreitantrag des AfD-Bundestagsabgeordneten Petr Bystron gegen ein ihm wegen eines getwitterten Stimmzettels auferlegtes Ordnungsgeld als unzulässig verworfen. Der Abgeordnete hätte zunächst den von der Geschäftsordnung des Bundestages vorgesehenen Einspruch einlegen müssen, so das BVerfG (Beschluss vom 17.09.2019, Az.: 2 BvE 2/18).

Ordnungsgeld wegen getwittertem Stimmzettel verhängt

Nach der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages fand in dessen 19. Sitzung am 14.03.2018 nach ausführlichen Erläuterungen des Wahlverfahrens durch den Bundestagspräsidenten die Wahl der Bundeskanzlerin als erster Tagesordnungspunkt statt. Die Bundeskanzlerin erhielt die erforderliche Mehrheit und leistete anschließend ihren Amtseid. Unmittelbar im Anschluss daran erklärte der Bundestagspräsident (Antragsgegner), dass der AfD-Abgeordnete Petr Bystron in der Wahlkabine den von ihm ausgefüllten Stimmzettel samt seinem Wahlausweis fotografiert und dieses Foto veröffentlicht habe. Er habe damit bewusst gegen den Grundsatz der Geheimhaltung der Wahl verstoßen. Der Bundestagspräsident verhängte daraufhin wegen einer schwerwiegenden Verletzung der Ordnung und Würde des Bundestages gemäß § 37 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) ein Ordnungsgeld in Höhe von 1.000 Euro.

Kein Einspruch eingelegt

Nach den eigenen Ausführungen des Antragstellers in seiner Antragsschrift hatte er in der Wahlkabine seinen Abgeordnetenausweis und seinen angekreuzten Stimmzettel fotografiert und über seinen Twitter-Account veröffentlicht, versehen mit der Überschrift: "Nicht meine Kanzlerin". Die Stimmabgabe wurde ungeachtet der Ordnungsmaßnahme nicht für ungültig erklärt. Der Antragsteller legte keinen Einspruch gegen die Ordnungsmaßnahme ein. Mit Schreiben vom 21.03.2018 erklärte die Verwaltung des Deutschen Bundestages gegenüber dem Antragsteller in Höhe von 1.000 Euro die Aufrechnung mit der ihm zustehenden Abgeordnetenentschädigung. Der Antragsteller begehrte die Feststellung, dass der Antragsgegner durch die Verhängung des Ordnungsgeldes seine Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt hat.

BVerfG: Zwischen allgemeinen politischen und normativen Handlungsalternativen zu unterscheiden

Das BVerfG hat den Antrag wegen Unzulässigkeit verworfen. Dem Antragsteller fehle das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Das BVerfG erläutert, dass seit jeher Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis für ein Organstreitverfahren beständen hätten, wenn ein Antragsteller völlig untätig geblieben ist, obwohl er in der Lage gewesen wäre, die nunmehr gerügte Rechtsverletzung durch eigenes Handeln rechtzeitig zu vermeiden. Demgemäß sei verlangt worden, dass ein Antragsteller die ihm möglichen Schritte unternimmt, um seinem Ziel zur Durchsetzung zu verhelfen. Zwar solle einem Antragsteller nicht unter pauschalem Hinweis auf allgemeine politische Handlungsalternativen der Zugang zu einem verfassungsgerichtlichen Verfahren abgeschnitten werden. Von derartigen diffusen Handlungsmöglichkeiten seien aber diejenigen Handlungsoptionen abzugrenzen, die nicht politisch, sondern normativ vorgesehen seien, gerade um ein Verfassungsrechtsverhältnis erst zu konkretisieren, zu gestalten und gegebenenfalls zu klären.

Zunächst Einspruch gegen Ordnungsmaßnahmen einzulegen

Laut BVerfG ist danach von einem Antragsteller zu verlangen, gegen die durch den Sitzungspräsidenten verhängten parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen Ordnungsruf, Ordnungsgeld und Sitzungsausschluss vor einer Anrufung des BVerfG zunächst erfolglos das von der Geschäftsordnung vorgesehene Einspruchsverfahren durchzuführen. Denn das insofern vorgesehene Prozedere sei mit allgemeinen politischen Handlungsalternativen nicht vergleichbar.

Einspruch gegen Ordnungsmaßnahmen ist Rechtsbehelf

Der Einspruch wird dem BVerfG zufolge als Rechtsbehelf verstanden. Er habe keine aufschiebende Wirkung. Allgemein gelte, dass dem Einspruch der Charakter eines Antrags auf Abhilfe an die "nächsthöhere Instanz" zugeschrieben wird, mit dem der betroffene Abgeordnete eine Überprüfung der gegen ihn ergangenen Ordnungsmaßnahme durch den Bundestag, den Inhaber der Ordnungsgewalt, erreichen wolle. Dies hebe den Einspruch von anderen, außerhalb eines solchen ausdrücklichen Regelungssystems stehenden politisch-parlamentarischen Handlungsmöglichkeiten ab.

Normative Betrachtung maßgeblich

Die vom Antragsteller wie auch in Teilen des Schrifttums vertretene Auffassung, der Einspruch sei mangels einer gegenüber dem Parlament bestehenden Entlastungs- und Kontrollfunktion als Rechtsbehelf verzichtbar, überzeugt das BVerfG nicht. Eine Entlastung des etwaig nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Verfahrens komme dem Einspruch aufgrund seiner niedrigen Erfolgsquote in der Tat nicht zu. Jedoch gehe es hier um eine normative Betrachtung des Einspruchs als vom parlamentarischen Binnenrecht vorgesehenes Element der Konfrontation mit dem Zweck der jedenfalls möglichen Aufklärung eines Verfassungsrechtsverhältnisses.

Einspruch ermöglicht Kontrolle

Gleiches gelte für die dem Einspruch vereinzelt abgesprochene Kontroll- und Selbstreinigungsfunktion. Von den Fällen nachträglicher Verhängung von Ordnungsmaßnahmen abgesehen werde die entsprechende Entscheidung des Sitzungspräsidenten in der Regel, so wie auch im vorliegenden Verfahren, zeitlich kurzfristig und in der Aktualität der konkreten Situation getroffen werden. Über den Einspruch werde hingegen am nächsten Plenarsitzungstag entschieden. Allein schon aufgrund dieses "retardierenden Moments" gebe die Formalisierung des Einspruchsverfahrens Gelegenheit zur parlamentarischen Reflexion und eröffne eine Kontrollmöglichkeit.

Einspruchserfordernis legitimiert delegierte Ordnungsgewalt des Sitzungspräsidenten

Zu berücksichtigen sei ferner, dass das Einspruchserfordernis im Spannungsverhältnis von Parlament und Abgeordneten beziehungsweise von Geschäftsordnungsautonomie und Abgeordnetenrechten eine wesentliche legitimatorische Funktion erfüllt, erläutert das BVerfG weiter. Die durch den Bundestagspräsidenten wahrgenommene Ordnungs- und Disziplinargewalt sei Bestandteil der dem Parlament durch Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Geschäftsordnungsautonomie. Träger und Inhaber dieser Ordnungsgewalt sei mithin das Plenum des Deutschen Bundestages. Der Sitzungspräsident übe sie jedoch kraft Übertragung durch das Parlament und nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung in eigener Verantwortung und unabhängig aus. Es handele sich also um eine Delegation, die Begründung einer neuen, eigenständigen Zuständigkeit des Delegatars. Dem entspreche es, dass der Abgeordnete, der von einem Ordnungsruf, einem Sitzungsausschluss oder der Verhängung von Ordnungsgeld betroffen sei, gemäß § 39 GOBT Einspruch zum Bundestag erheben kann. Dass das Plenum des Bundestages über den Einspruch entscheide, sei Ausdruck des Umstandes, dass es weiterhin Träger der Ordnungsgewalt bleibt. Diese gehöre zu den traditionellen Bereichen der Geschäftsordnungsautonomie und stehe dem Bundestagspräsidenten als sitzungsbezogene Kompetenz gerade nicht in vollem Umfang originär zu, sondern sei, jedenfalls was die Mitglieder des Bundestages anbelange, durch das Parlament "in seine Hände gelegt". Dem entspreche es, dass das Plenum in seiner Entscheidungsbefugnis nicht eingeschränkt ist. Es sei an die vorgängige Entscheidung des Bundestagspräsidenten nicht gebunden. Die Entscheidung über den Einspruch stelle sich damit als die originäre Plenumsentscheidung und wesentliches Element des Meinungsbildungs- und Diskursprozesses im Parlament dar.

Einspruchsverfahren ermöglicht Anpassung bei gewandeltem Verständnis der geschützten Rechtsgüter

Für die auch verfassungsprozessuale Relevanz des Einspruchsverfahrens spricht nach Ansicht des BVerfG schließlich die Bedeutung des von sämtlichen einspruchsfähigen Ordnungsmaßnahmen geschützten Guts, nämlich Ordnung und Würde des Bundestages. Mit diesen unbestimmten Rechtsbegriffen seien Konzepte in Bezug genommen, die offen seien für gesellschaftliche Entwicklungen und deren Spiegelung im parlamentarischen Raum und als Ausdruck eines sich wandelnden Selbstverständnisses des Bundestages durchaus einem dynamischen Verständnis unterliegen könnten. Umso dringender sei es dann jedoch geboten, das gesamte Parlament mit der Frage zu befassen, ob der Bundestagspräsident als mit der Ordnungsgewalt betrauter Delegatar der Geschäftsordnungsautonomie die treffende Wertung des gültigen parlamentarischen Willensbildungsprozesses vollzogen habe.

Stärkung des parlamentarischen Reflektionsraums

Das BVerfG kommt daher zu dem Schluss, dass von einem Abgeordneten erwartet werden könne, gegen formelle Ordnungsmaßnahmen das von der Geschäftsordnung vorgesehene statthafte Einspruchsverfahren anzustrengen und erst nach dessen Erfolglosigkeit um verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. Nur so könne der innerparlamentarische Willensbildungs- und Diskursprozess durchlaufen und abgeschlossen werden. Dies diene somit zugleich einer verfahrensrechtlichen Eröffnung und Stärkung des parlamentarischen Reflektionsraums: Das im parlamentarischen Verfahren nach Art. 42 GG gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffne Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen und trage zu einer Willensbildung der Abgeordneten bei, die sie in die Lage versetze, die Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen. Streit über das parlamentarische Selbstverständnis gehöre in erster Linie in den Binnenraum des Parlaments, sofern dieser regelhafte Mechanismen zur Konsensbildung und Dissensbewältigung bereithalte. Dies sei mit dem System der Ordnungsmaßnahmen der §§ 36 ff. GOBT und dem nachgelagerten Einspruchsverfahren des § 39 GOBT der Fall.

BVerfG, Beschluss vom 17.09.2019 - 2 BvE 2/18

Redaktion beck-aktuell, 8. Oktober 2019.