Wenn Abgeordnete Reißaus nehmen: Texas und das "partisan gerrymandering"
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Dass ein Parlament leer wirkt, ist keine Seltenheit. Eine Gruppe Abgeordnete, die geschlossen den Bundesstaat verlässt, hingegen schon. So geschehen in Texas. Dabei ist der Vorfall vielleicht nur ein Vorgeschmack dessen, was der amerikanischen Demokratie blüht, schreibt Theodor Shulman.

Auf Wunsch von US-Präsident Trump will die republikanische Parlamentsmehrheit in Texas den Zuschnitt der texanischen Wahlkreise für das Repräsentantenhaus des Bundes abändern. Die Partei erhofft sich dadurch, bei den im kommenden Jahr stattfindenden Zwischenwahlen zum Repräsentantenhaus fünf mehr der insgesamt 38 Texas zugewiesenen Repräsentantinnen und Repräsentanten zu gewinnen. Damit bezweckt sie, den Sieg der Demokraten abzuwenden. Das Ziel: eine verlässliche und beugsame Kongressmehrheit für Präsident Donald Trump.

Der entsprechende Gesetzentwurf zur Änderung der Wahlkreise hat im texanischen Repräsentantenhaus und Senat gute Chancen. Denn in diesen verfügen die Republikaner über eine komfortable Mehrheit. Wäre da nicht das Quorum: Damit überhaupt eine Abstimmung stattfinden kann, müssen 100 der 150 Repräsentanten und 21 der 30 Senatorinnen und Senatoren anwesend sein. Und so groß ist die republikanische Mehrheit dann doch nicht: Die 88 republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus genügen nicht, um auf eigene Faust eine Abstimmung herbeizuführen.

Demokraten verlassen geschlossen den Bundesstaat Texas

51 Abgeordnete der Demokraten sahen hierin ihre Chance und verließen den Bundesstaat. Zwei Wochen lang kampierten sie – allen Drohungen und Beschimpfungen der Republikaner zum Trotz – im Bundesstaat Illinois. Dort waren sie vor dem Zugriff der texanischen Behörden und einer erzwungenen Rückkehr ins Parlament sicher. Vergangene Woche kündigten sie das Ende ihres Protests an. Mittlerweile hätten sie für hinreichend Aufmerksamkeit gesorgt. Ein Beweis hierfür: Die vom kalifornischen Gouverneur erdachte Retourkutsche, den Zuschnitt der kalifornischen Wahlkreise für das Washingtoner Repräsentantenhaus abzuändern. Der in Texas erzielte republikanische Vorteil soll durch entsprechende Zugewinne der Demokraten im Westküstenstaat ausgeglichen werden.

Ob das funktioniert, bleibt abzuwarten. Denn der kalifornische Gesetzesentwurf müsste in einer Volksbefragung ratifiziert werden. Die Chancen dafür stehen momentan nicht gut. Klar ist auf jeden Fall, dass die texanischen Bestrebungen die Büchse der Pandora geöffnet haben. Drei weitere Bundesstaaten mit republikanischer und zwei Bundesstaaten mit demokratischer Mehrheit planen nun, ihre Wahlkreise zugunsten der Parlamentsmehrheit neu zuzuschneiden. Dabei steht schon jetzt bei rund 90 Prozent der Wahlkreise für das Repräsentantenhaus im Vorhinein weitgehend fest, welche Partei gewinnen wird. Steigt dieser Anteil jetzt noch weiter, wird man in Zukunft also erst recht behaupten dürfen, dass sich nicht das Wahlvolk seine Vertreter aussucht, sondern die Vertreterinnen und Vertreter ihr Wahlvolk.

"Elections Clause" für eigenen Vorteil nutzen

Wie erklärt sich nun, dass die Gesetzgebungsinstitutionen eines Bundesstaates darüber entscheiden können, wie Abgeordnete des Repräsentantenhauses des Bundes gewählt werden? Zum Vergleich: In Deutschland richtet sich das Wahlrecht gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nach einem Bundesgesetz, das auch die Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise festlegt.

Die Antwort für die USA findet sich im vierten Abschnitt des ersten Artikels der amerikanischen Bundesverfassung, der sogenannten "Elections Clause". Hiernach entscheidet die Gesetzgebung ("Legislature") jedes Bundesstaates über "Time, Places and Manner" der Wahlen bundesstaatlicher Senatorinnen und Senatoren sowie Repräsentanten. Die Senatorinnen und Senatoren werden dabei von allen Wahlberechtigten des jeweiligen Bundesstaates gewählt – hier gibt es also keine Wahlkreise. Bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus ist hingegen jedes Abgeordnetenmandat einem einzelnen Wahlkreis im Bundesstaat zugeordnet.

Dass die Elections Clause dazu genutzt wird, der eigenen Partei einen rechnerischen Vorteil im Repräsentantenhaus zu verschaffen, ist kein neues Phänomen. Schon seit Bestehen der USA gibt es das "gerrymandering", bei dem Wahlkreise so zugeschnitten werden, dass der Sieger schon im Vorhinein feststeht. Der Begriff ist ein Kofferwort aus Gerry und Salamander und geht auf den US-Politiker Elbridge Gerry zurück. Dieser unterzeichnete 1812 ein Gesetz zum Neuzuschnitt der Wahlkreise für den Senat von Massachusetts. Einer der neuen Wahlkreise ähnelte dabei einem Salamander.

Auch die Mittel des gerrymandering sind altbekannt. Zum Beispiel werden Wahlkreise, in denen eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler zur anderen Partei tendiert, zweigeteilt (sogenanntes "cracking"). Alternativ können die Grenzen eines Wahlkreises so gezogen werden, dass die gesamte zur Gegenseite tendierende Wählerschaft in nur einem Wahlkreis angesiedelt ist, eine Vielzahl benachbarter Wahlkreise hingegen fest in eigener Hand liegt (sogenanntes "packing"). Immer raffiniertere Algorithmen erlauben dabei ein zunehmend effizientes und wirkungsvolles gerrymandering.

In verschiedenen Bundesstaaten ist gerrymandering zwischenzeitlich ein Riegel vorgeschoben worden. So entscheidet in Kalifornien ein parteipolitisch ausgewogen besetztes Gremium über den Wahlkreiszuschnitt. In anderen Bundesstaaten sind der Parteilichkeit aber Tür und Tor geöffnet. In Illinois hat das gerrymandering der Demokraten dazu geführt, dass die Republikaner nur drei Sitze im Repräsentantenhaus gewonnen haben.

Wie muss eine Wahlkreiskarte aussehen, damit sie "fair" ist?

Dieser Befund wirft allerdings eine interessante Frage auf: Wie muss eine Wahlkreiskarte aussehen, damit sie "fair" ist? Eine Antwort hierauf könnte lauten: Wenn jede Partei so viele Wahlkreise zu gewinnen imstande ist, wie ihr aufgrund der prozentualen Wahlergebnisse Sitze zustehen sollten.

Hiergegen lässt sich aber Folgendes einwenden: Ein Wahlsystem, das gerade kein Verhältniswahlrecht vorsieht, sollte nicht daran gemessen werden, wie exakt seine Ergebnisse mit jenen eines hypothetischen Verhältniswahlrechts übereinstimmen. Diesen Einwand hat auch der US Supreme Court erhoben, als er sich 2019 endgültig dafür entschied, Klagen gegen parteipolitisches gerrymandering für nicht justiziabel zu erachten. Der Gleichheitsgrundsatz der amerikanischen Verfassung verlange nicht, dass das Repräsentantenhaus die Wählerstimmen einem Verhältniswahlrecht gleich abbilde. Vielmehr zeige die Elections Clause, dass der Verfassungsgeber ein bestimmtes Maß an parteipolitischem gerrymandering vorausgesetzt habe. Zudem sei es nicht möglich, legitimes von unverhältnismäßigem gerrymandering zu unterscheiden.

Der Supreme Court behält sich aber auch jetzt noch vor, Wahlkreiskarten für unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz zu erklären, die die Stimmwertgleichheit der Wählerinnen und Wähler verwässern. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Zahl der Wahlberechtigten in den verschiedenen Wahlkreisen stark voneinander abweichen. Derartige Fehler werden beim modernen, "professionellen" gerrymandering allerdings kaum noch gemacht.

Außerdem bleibt das sogenannte "racial gerrymandering" verboten. Darunter versteht man Wahlkreisänderungen, die darauf abzielen, die Repräsentation etwa schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner zu untergraben. Dieses Verbot wollen sich jetzt auch die texanischen Demokraten zunutze machen: Sie wollen vor Gericht vortragen, dass die texanischen Wahlkreisänderungen das Stimmgewicht der schwarzen und Latino-Bevölkerung Texas’ verwässern. Hieraus ein verfassungsrechtliches Argument zu zimmern, dürfte aber schwierig werden. Denn die Demokraten müssten nachweisen, dass es den Republikanern auf eine Schwächung gerade dieser Stimmen ankam.

Schwindende Verteidigungsmittel gegen gerrymandering

Wer demgegenüber auch den Einwand eines partisan gerrymandering vor Gericht erheben möchte, kann dies nur noch vor den Gerichten der einzelnen Bundesstaaten tun. So hat der Supreme Court von North Carolina 2022 die Wahlkreiskarte für mit dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung dieses Bundesstaats unvereinbar erklärt. Nach einer Neubesetzung der Richterbank revidierte der Supreme Court North Carolinas 2023 jedoch sein früheres Urteil und tat es dem US Supreme Court gleich: Fragen des partisan gerrymandering seien politischer Natur und nicht justiziabel. Dieselbe Mehrheit, die Wahlkreiskarten zu ihren Gunsten verzerrt, kann also auch ihr genehme gerichtliche Entscheidungen herbeiführen.

Die Elections Clause der amerikanischen Bundesverfassung sieht vor, dass der Kongress die von den Bundesstaaten erlassenen Wahlrechtsbestimmungen jederzeit abändern kann. Bisherige Versuche, partisan gerrymandering zu verhindern, waren aber nicht von Erfolg gekrönt. Es ist gut möglich, dass das auch so bleibt: Je mehr Abgeordnete im Repräsentantenhaus ihren Sitz einer verzerrten Wahlkreiskarte verdanken, desto weniger werden sich finden, die ein Verbot des partisan gerrymandering befürworten und praktisch durchzusetzen bereit sind.

Die texanische Wahlkreiskarte hat zwischenzeitlich Repräsentantenhaus und Senat passiert. Ob sich die in sie gesetzte Hoffnung Präsident Trumps erfüllt, werden letzten Endes erst die Midterms entscheiden. Eines aber ist sicher: Für die amerikanische Demokratie ist es eine weitere Belastungsprobe.

Redaktion beck-aktuell, Gastbeitrag von RA Dr. Theodor Shulman, 26. August 2025.

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