Geplatzte Verfassungsrichterwahl: Politische Plagiatsvorwürfe – gehört sich das?
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Das politische Berlin ist längst in der Sommerpause, die Causa Brosius-Gersdorf aber noch immer auf der Agenda. Ein – später relativierter – Verdacht am Vorabend der Wahl wirft die Frage auf, ob Plagiatsvorwürfe ein legitimes politisches Kampfmittel sind. Roland Schimmel meint: Sind sie. Meistens.

Am vergangenen Freitag scheiterte die Wahl dreier neuer Verfassungsrichter und -richterinnen. Für eine der drei Kandidatinnen zeichnete sich ab, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht werden würde. Das ist ungewöhnlich, weil mögliche Bedenken traditionell ausgeräumt werden, bevor die Angelegenheit in den Bundestag geht. Wie transparent das Verfahren alles in allem ist, steht auf einem anderen Blatt.

Im konkreten Fall kam aber noch ein Faktor hinzu: Am Abend vor dem Wahltag wurden auf einem Blog Vorwürfe öffentlich, es gebe auffällige und zu beanstandende Textidentitäten der Doktorarbeit der Kandidatin und der Habilitationsschrift ihres Ehemanns. Inzwischen verlautbart der Autor des Blogs, von den Medien gern als "der Plagiatsjäger" bezeichnet, über die zunächst dokumentierten 23 Passagen hinaus fänden sich "ständig neue Stellen". Der Vorwurf indes lautet diesmal nicht "Plagiat", sondern "Kollusion" mit der Option auf Plagiat. Im Raum steht neben dem Abschreiben der Eheleute voneinander in die eine oder andere Arbeitsrichtung die Möglichkeit der Übernahme von gemeinsam verfasstem Text in eine oder beide Qualifikationsschriften; das wäre eine unethische Autorschaft, die in der Täuschungsqualität wohl in der Nähe eines Plagiats liegt. 

Die Verfassungsrichterwahl ist einstweilen verschoben. Die Aufregung ist groß, mit Vorwürfen fast aller Beteiligten gegenüber fast allen Beteiligten wird nicht gegeizt.  

Inzwischen haben sich hunderte juristische Kollegen und Kolleginnen mit der Kandidatin solidarisiert. Sie selbst hat eine erste Stellungnahme abgegeben, die sich aber nicht auf die Textübereinstimmungen erstreckt, sondern richtigstellt, zu welchen Rechtsfragen sie sich bisher wie geäußert habe. Die Frage der Textidentitäten hat die spezialisierte Kanzlei Quaas & Partner im Auftrag von Frauke Brosius Gersdorf und ihres Ehemanns geprüft und ist vorläufig zum Ergebnis gekommen, es liege kein wissenschaftliches Fehlverhalten vor.*

Kandidatin sollte selbst nach Leichen im Keller suchen

Wieder einmal wird die Frage aufgeworfen, ob Plagiatsbeschuldigungen denn nun ein legitimes Mittel in politischen Auseinandersetzungen seien.  Ein großes Meinungslager verneint das pauschal: "Mach‘ ein‘ guten Mann nich‘ kaputt!" oder "Ich habe einen Minister eingestellt, nicht einen wissenschaftlichen Mitarbeiter." sind prominente und pointierte Formulierungen als Ausdruck einer Haltung, die zwischen den wissenschaftlichen Meriten und den politischen Qualitäten eines Menschen streng trennt. Die gegenteilige Meinung hält Kandidaten, die sich ihren akademischen Abschluss nur durch Täuschung erworben haben, auch politisch nicht für tragbar, weil moralisch verderbt. Die vermittelnde Ansicht meint, wer sich nicht rechtzeitig zu seinen Jugendsünden bekenne und hartnäckig leugne oder gar peinlich prozessiere, verspiele seine zweite Chance und müsse zurücktreten oder entlassen werden.  

Im aktuellen Fall möchte man gar nicht darüber nachdenken, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die Vorwürfe in letzter Sekunde lanciert werden konnten – denn idealerweise würde eine Kandidatin für das Amt einer Verfassungsrichterin, bevor die Nominierung auch nur der kleinsten Öffentlichkeit bekannt würde, gründlichst alle denkbaren Keller auf alle denkbaren Leichen durchsuchen, im eigenen Interesse, im Interesse des Ehemanns, im Interesse der vorschlagenden politischen Partei und im Interesse der Würde des Amts. Das dürfte im Jahr 2025 zur due diligence in einer solchen Situation gehören.  

Finden sich keine Leichen im Keller, sind die Vorwürfe des Plagiatsgutachters unberechtigt. Man kann sich dann dagegen mit den Mitteln des Zivilrechts wehren. Stellen sich die Vorwürfe aber als berechtigt heraus, ist es womöglich besser, nicht auf der Kandidatur zu bestehen. 

Wer die Wahrheit sagt, muss das jederzeit dürfen 

War nun das Verhalten des Plagiatsdokumentars unanständig, sollte man es gar verbieten oder wenigstens ignorieren? Nein, nein und nein. Natürlich riecht es fischig, wenn ein solcher Verdacht pünktlich am Vorabend der Richterwahl hochploppt. Man vermutet sogleich sinistre Auftraggeber, womöglich Feinde der Demokratie. Der Dokumentar indessen, der inzwischen gewohnheitsmäßig als „umstritten“ bezeichnet wird, behauptet unwiderlegt, er sei ehrenamtlich tätig geworden. Und er hat die beanstandeten Textparallelen veröffentlicht; jeder kann sich dazu eine Meinung bilden. Fischiger Geruch hin oder her - er könnte recht haben. Außerdem: Der Überbringer der schlechten Nachricht lebt von Gutachten über akademisch bedenkliches Verhalten, insbesondere Plagiate. Er ist auf maximale Aufmerksamkeit angewiesen, zur Kundengewinnung. Das muss man in einer Marktwirtschaft hinnehmen. Wer die Wahrheit sagt, muss sie jederzeit sagen dürfen. Wer nicht die Wahrheit sagt, muss mit den zivil- und strafrechtlichen Risiken leben.  

Und im politischen Prozess ist es kaum möglich, Wahrheiten zu ignorieren, weil sie "zur Unzeit" ausgesprochen werden. Wer eine Richterin am BVerfG für untragbar hält, weil ihre akademische Qualifikation neuerdings Bedenken ausgesetzt ist, wird auf baldige Klärung der Bedenken drängen müssen.  

Zuständig dafür wiederum ist die Universität Hamburg, die sowohl die Kandidatin promoviert als auch ihren Ehemann habilitiert hat. Diese wiederum lässt verlauten, es gebe ein hierfür zuständiges Ombudsgremium, das allerdings nicht schon dann tätig werde, wenn irgendwo im Netz der Vorwurf wissenschaftlich unanständigen Verhaltens auftauche (und sei er auch noch so detailliert dokumentiert), sondern auf eine Eingabe warte. Da genügt auch kein wie auch immer zu begründendes erhebliches öffentliches Interesse.  

Jeder instrumentalisierte Skandal lenkt den Blick aufs Wesentliche 

Die Kandidatin wird also selbst um Aufklärung nachsuchen (lassen) müssen. Das Verfahren ist nicht öffentlich und dauert oft jahrelang, von der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle über mehrere Instanzen hinweg ganz zu schweigen. Bei Politikerinnen geht es schneller, bei Wissenschaftlern nicht. Mit etwas Glück bekommt die Kandidatin einen Politikerbeschleunigungszuschlag, obwohl sie Universitätsprofessorin ist.  

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Jahre und Jahrzehnte nach den "ersten" Plagiatsskandalen die Universitäten zu einer zügigen und zugleich rechtssicheren Prüfung entweder nicht imstande oder nicht willens sind. Unter diesem Gesichtspunkt muss man über jeden noch so politisch instrumentalisierten Plagiatsskandal froh sein, weil so immer wieder neu der Blick auf die schwachen akademischen Qualitätssicherungsverfahren gelenkt wird. 

Was nun den Plagiatsdokumentar anbelangt, kann man über schlechten Stil schimpfen, so viel man will. Es führt doch an der Aufklärung der erhobenen Vorwürfe kein Weg vorbei. Und dieser Gedanke ist wohl gut verallgemeinerbar. Die individuellen Absichten des Überbringers schlechter Nachrichten mögen ein G’schmäckle erzeugen – aber es muss eben geprüft werden, ob die schlechte Nachricht stimmt. Es sei denn, wir entschieden uns mehrheitlich dafür, Plagiate zu Petitessen zu erklären.  

Prof. Dr. Roland Schimmel lehrt Wirtschaftsprivatrecht und Bürgerliches Recht an der Frankfurt University of Applied Sciences. Mit Plagiaten und vergleichbaren Formen akademischen Fehlverhaltens befasst er sich schon länger. 

Anm. d. Red.: Der Artikel wurde am Tag der Veröffentlichung an mehreren Stellen angepasst und aktualisiert (pl, 16.07.2025, 15:15h).

Gastbeitrag von Prof. Dr. Roland Schimmel, 16. Juli 2025.

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