George Floyds Vermächtnis
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© JEMAL COUNTESS / picture alliance
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"Schuldig!" schreit irgendwer. Im nächsten Moment bricht vor dem Gerichtsgebäude in Minneapolis ein Sturm der Begeisterung los. Hunderte skandieren immer wieder den Namen des Afroamerikaners George Floyd. "Wer hat gewonnen? Wir haben gewonnen!", rufen sie. Die Demonstranten feiern am Dienstag das Urteil gegen den weißen Ex-Polizisten Derek Chauvin, der wegen der Tötung Floyds in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen wurde.

Große Erleichterung und Freude bei Demonstranten

Floyds Ex-Partnerin Courtney Ross bahnt sich ihren Weg durch die Menge, zieht sich die Maske mit dem Konterfei des Getöteten vom Gesicht und greift ein Mikrofon: "Sein Geist ist hier mit Euch allen. Seine großen Arme umgreifen Euch alle und geben euch eine große, große, große Umarmung", sagt sie sichtlich bewegt. Ein Zuhörer ruft dazwischen: "Wir erleben Geschichte!" Die Anspannung vor dem massiv gesicherten Gerichtsgebäude weicht der Erleichterung. Der Geruch von Grillfleisch wabert über den Platz, Musik schallt aus Lautsprechern, eine triumphale Stimmung breitet sich aus, die Freude ist greifbar.

Floyds Schicksal verstärkte Kampf gegen Rassismus 

Floyds Schicksal hatte in den USA im vergangenen Jahr mitten in der Pandemie Millionen Menschen zu Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt bewegt. Vielerorts folgten Polizeireformen, die den Beamten zum Beispiel Würgegriffe und Halsfixierungen verboten oder deren Immunität einschränkten. Viele mit Sklaverei verbundene Statuen wurden abgebaut, in allen Gesellschaftsbereichen – vom Sport über das Arbeitsleben bis hin zur Politik – war der Kampf gegen Rassismus plötzlich ein akutes Thema. Viele Beobachter sprachen von einem Meilenstein im Kampf gegen die Benachteiligung der Schwarzen, die in den USA rund 13% der Bevölkerung ausmachen.

Aktivisten: Urteil nur Etappenziel

Das Urteil gegen Chauvin wird auch als Triumph über das gesehen, was viele als Straffreiheit der Polizei für Vergehen gegen Schwarze bewerten. Doch Aktivisten und viele Politiker ließen am Dienstag (Ortszeit) keinen Zweifel daran, dass "Gerechtigkeit für George" nur ein Etappensieg im Kampf gegen strukturellen Rassismus sein kann.

Obama hält tiefgreifendes Umdenken für erforderlich

"Wahre Gerechtigkeit erfordert, dass wir die Tatsache einsehen, dass schwarze Amerikaner anders behandelt werden, jeden Tag", erklärte der frühere US-Präsident Barack Obama nach der Urteilsverkündung. "Wir müssen anerkennen, dass Millionen unserer Freunde, Familienangehörigen und Mitbürger in Angst leben, dass ihre nächste Begegnung mit der Polizei ihre letzte sein könnte." Die USA bräuchten ein tiefgreifendes Umdenken und Reformen, um die Ungleichbehandlung durch Polizei und Justiz zu verringern, mahnte Obama.

Strukturelle Benachteiligung Schwarzer hat viele Facetten

Mehr als 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und gut fünf Jahrzehnte nach der vollen rechtlichen Gleichstellung Schwarzer gibt es in den USA es immer noch viel Aufholbedarf. Die strukturelle Benachteiligung Schwarzer hat viele Facetten. Manche Aspekte sind objektiv messbar, zum Beispiel die geringere Lebenserwartung oder das um etwa den Faktor zehn kleinere Vermögen einer durchschnittlichen schwarzen Familie im Vergleich mit einem weißen Haushalt. Zudem werden Afroamerikaner und andere Schwarze deutlich häufiger Opfer von Polizeigewalt. Aber manche Aspekte sind schwer messbar, darunter etwa die Angst vieler Schwarzer vor der Polizei oder die alltäglichen Diskriminierungen, sei es beim Einkaufen oder im Berufsleben.

Chauvin presste sein Knie gut neun Minuten auf Floyds Hals

George Floyds Fall zeigte, wie schnell eine Begegnung Schwarzer mit der Polizei aus dem Ruder geraten kann: Die Beamten nahmen den 46-Jährigen am 25.05.2020 fest, weil er eine Schachtel Zigaretten mit einem falschen 20-Dollar-Schein bezahlt haben soll. Videos dokumentierten, wie Polizisten den unbewaffneten Mann zu Boden drückten. Chauvin presste dabei sein Knie gut neun Minuten lang auf Floyds Hals, während dieser immer wieder flehte, ihn atmen zu lassen. Floyd verlor das Bewusstsein und starb wenig später. Die Videos der Passanten verbreiteten sich rasant, sie waren der Funke, an dem sich die Massenproteste entzündeten.

Floyds Worte im Todeskampf "I can't breathe" heute Metapher für Rassismus

Am einstigen Tatort, an der Kreuzung der Chicago Avenue und der 38. Straße, versammelt sich am Dienstag nach der Urteilsverkündung sofort eine Menschenmenge. Auf dem Asphalt – umgeben von Blumen, Kuscheltieren und Kerzen – prangt der Umriss eines Mannes mit Engelsflügeln. Darunter stehen die Worte Floyds, die er in seinem erschütternden Todeskampf, als Chauvin neun Minuten und 29 Sekunden auf seinem Hals kniete, mehr als 20 Mal äußerte: "I can't breathe". Der Satz ist inzwischen zu einer Metapher für Rassismus und Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern und anderen Minderheiten in den USA geworden.

In USA allein in 2020 243 Schwarze von Polizei erschossen

Unzählige Graffitis zeigen in den Straßen von Minneapolis und im ganzen Land Porträts von Floyd. Er gab der Ungerechtigkeit einen Namen und ein Gesicht, doch sein Schicksal ist beileibe kein Einzelfall. Allein im vergangenen Jahr wurden einer Datenbank der "Washington Post" zufolge 243 Schwarze von der Polizei erschossen – und Floyd taucht in der Statistik nicht auf, schließlich wurde er nicht erschossen. Zu einer Strafverfolgung kommt es in wenigen Fällen, noch seltener werden Polizisten verurteilt.

Biden und Harris mahnen Gesetz für Polizeireformen an

"Es ist eine Tatsache, dass wir noch Arbeit vor uns haben. Wir müssen immer noch das System reformieren", sagte die schwarze Vizepräsidentin Kamala Harris nach der Urteilsverkündung im Weißen Haus. Präsident Joe Biden betonte, Rassismus sei auch weiter "ein Schandfleck auf der Seele unserer Nation". Floyd hinterlasse ein Vermächtnis des Friedens, der Gerechtigkeit und des friedlichen Protests, sagte Biden. Er und Harris forderten den Kongress mit Nachdruck auf, ein nach George Floyd benanntes Gesetz für Polizeireformen zu verabschieden. Dafür wären aber einige Stimmen der Republikaner im Senat nötig – was derzeit nicht absehbar ist.

Bis zu 40 Jahre Haft wegen Mordes "zweiten Grades ohne Vorsatz"

Mit Chauvins Verurteilung ist die klare Botschaft verbunden, dass Polizisten auch für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Chauvin wurde unmittelbar nach der Urteilsverkündung in Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt. Der schwerwiegendste Anklagepunkt gegen Chauvin lautete Mord zweiten Grades ohne Vorsatz. Darauf stehen in Minnesota bis zu 40 Jahre Haft. Zudem wurde Chauvin auch Mord dritten Grades vorgeworfen, was mit bis zu 25 Jahren Haft geahndet werden kann. Auch musste er sich wegen Totschlags zweiten Grades verantworten, worauf zehn Jahre Haft stehen. Der nicht vorbestrafte Chauvin dürfte Experten zufolge nicht die maximal zulässige Haftstrafe bekommen – aber ihm drohen lange Jahre hinter Gittern.

"Black Lives Matter"-Aktivisten: Tag der Hoffnung

Vor dem Gerichtsgebäude in Minneapolis sind sich auch die "Black Lives Matter"-Aktivisten einig, dass das Urteil gegen Chauvin nur ein erster Schritt sein kann. "Es bedeutet, dass es die Voraussetzungen für zukünftige Veränderungen in der Geschichte schafft", sagt Toussaint Morrison. Doch dieser 20. April ist für viele Amerikaner erst einmal ein Tag der Erleichterung, ein Tag der Hoffnung. "Gerechtigkeit für George bedeutet Freiheit für alle", meint Floyds Bruder Philonise. "Heute können wir wieder atmen."

Redaktion beck-aktuell, Benno Schwinghammer und Jürgen Bätz, 21. April 2021 (dpa).