Streit um Kartellschadensersatz wegen Lkw-Kartell
Am 19.07.2016 stellte die EU-Kommission fest, dass mehrere Lkw-Hersteller, darunter AB Volvo und DAF Trucks, von 1997 bis 2011 an einem Kartell beteiligt waren, das sich unter anderem auf die Preise der Lkw bezog. Ein Käufer, der in 2006 und 2007 drei von diesen beiden Unternehmen hergestellte Lkw erworben hatte, klagte vor einem spanischen Gericht auf Ersatz des aus dem wettbewerbswidrigen Verhalten entstandenen Schadens. Das Gericht erster Instanz gab der am 01.04.2018 erhobenen Klage teilweise statt. Es verurteilte Volvo und DAF Trucks zur Zahlung eines Schadenersatzes von 15% des Kaufpreises der Lkw. Die von Volvo und DAF Trucks geltend gemachte Verjährungseinrede wies es zurück und kam zu dem Schluss, dass die in den spanischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie über die Entschädigung der Opfer wettbewerbswidriger Praktiken (RL 2014/104/EU) vorgesehene Fünfjahresfrist anwendbar sei. Zudem brachte das Gericht nach denselben Rechtsvorschriften die Vermutung zur Anwendung, dass die in Rede stehenden Zuwiderhandlungen einen Schaden verursachen, und machte von seiner Befugnis Gebrauch, den Schaden zu schätzen, wie dies in zwei Bestimmungen der Richtlinie vorgesehen ist.
Unternehmen wenden Verjährung ein und bestreiten Kausalzusammenhang
Die beiden Unternehmen legten Berufung ein. Sie brachten zum einen vor, die Klage sei verjährt, da die Jahresfrist der ihrer Meinung nach anwendbaren Regelung über die außervertragliche Haftung des Zivilgesetzbuchs ab der Bekanntgabe der Pressemitteilung der Kommission am 19.07.2016 zu laufen begonnen habe. Zum anderen gebe es keine Beweise für einen Kausalzusammenhang zwischen dem im Beschluss der Kommission beschriebenen Verhalten und der Erhöhung des Preises der erworbenen Lkw.
Spanisches Berufungsgericht ruft EuGH an
Das in zweiter Instanz zuständige spanische Gericht legte dem EuGH daraufhin Fragen über den zeitlichen Anwendungsbereich einiger Bestimmungen der Richtlinie, hinsichtlich der anwendbaren Verjährungsfrist, zur Schadensschätzung sowie darüber vor, ob die auf Schadenersatzklagen infolge wettbewerbsrechtlicher Zuwiderhandlungen anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften in Anbetracht von Art. 101 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar seien.
EuGH-Generalanwalt: Zeitlicher Anwendungsbereich der Richtlinie begrenzt
Generalanwalt Athanasios Rantos hebt in seinen Schlussanträgen vorab hervor, dass es im vorliegenden Verfahren darum gehe, welche rechtliche Regelung auf die Verjährung der in Rede stehenden Klage sowie auf die Schätzung und Ermittlung des Umfangs des erlittenen Schadens anwendbar sei. Der Generalanwalt weist zunächst darauf hin, dass der zeitliche Anwendungsbereich der Richtlinie tatsächlich begrenzt sei, da sie zwischen materiell-rechtlichen Vorschriften, die für vor ihrem Inkrafttreten "entstandene Sachverhalte" nicht rückwirkend gölten, und Verfahrensvorschriften unterscheide, die im Rahmen von nach Inkrafttreten der Richtlinie (das heißt dem 26.12.2014) erhobenen Klagen gölten.
Regelung zu Verjährungsfrist materiellem Recht zuzuordnen
Nach Ansicht des Generalanwalts ist die Beurteilung, ob die Bestimmungen der Richtlinie materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art sind, im Hinblick auf das Unionsrecht und nicht im Hinblick auf das nationale Recht vorzunehmen, um die kohärente und einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen. Konkret gehöre die Regelung der Richtlinie über die Verjährungsfrist zum materiellen Recht, da diese Frist sowohl den Geschädigten – dieser müsse über genug Zeit verfügen, um geeignete Informationen im Hinblick auf eine etwaige Klage einzuholen – als auch den für den Schaden Verantwortlichen schützen solle, indem vermieden werde, dass der Geschädigte mit der Ausübung seines Rechts auf Schadensersatz unbegrenzt lange warten könne. Daher sei die in der Richtlinie vorgesehene Fünfjahresfrist auf eine Klage wie die in Rede stehende nicht anwendbar, die, obwohl sie nach dem Inkrafttreten der Richtlinie und der nationalen Umsetzungsbestimmungen (26.05.2017) erhoben worden sei, einen Sachverhalt und Sanktionen vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmungen betreffe.
Auch Vermutung des Kausalzusammenhang materiell-rechtlich
Darüber hinaus stellt der Generalanwalt fest, dass die Richtlinienbestimmung, wonach vermutet wird, dass Zuwiderhandlungen in Form von Kartellen einen Schaden verursachen, materieller Art sei. Dadurch, dass die Beweislast dem Rechtsverletzer auferlegt und der Geschädigte von der Pflicht entbunden werde, zu beweisen, dass ein aufgrund eines Kartells erlittener Schaden vorliege, stehe diese Bestimmung nämlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zuweisung der außervertraglichen zivilrechtlichen Haftung an denjenigen, der die betreffende Zuwiderhandlung begangen habe und berühre folglich unmittelbar dessen rechtliche Situation. Was speziell nationale Normen betreffe, mit denen die Bestimmung umgesetzt werde, die eine Vermutung vorsehe, nach der durch Kartelle ein Schaden verursacht werde, vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass im Rahmen von Schadenersatzklagen, die nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Bestimmungen erhoben würden, die Richtlinie dem entgegenstehe, dass diese auf Zuwiderhandlungen angewandt würden, die vor deren Inkrafttreten begangen worden seien.
Vorschriften zur Schadensschätzung formeller Art
Dagegen sind nach Ansicht von Generalanwalt Rantos die nationalen Umsetzungsvorschriften, die erlassen worden seien, um der Richtlinienbestimmung über die Befugnis des Gerichts zur Schätzung des Schadens nachzukommen, Verfahrensvorschriften und können im Rahmen einer nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Umsetzungsvorschrift erhobenen Schadenersatzklage auf Schäden infolge einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Anwendung finden, die vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift geendet habe.
Kürzere nationale Verjährungsregelung auf dem Prüfstand
Sodann prüft der Generalanwalt die Vereinbarkeit der im spanischen Zivilgesetzbuch vorgesehenen Regelung der außervertraglichen Haftung mit dem Effektivitätsgrundsatz, wonach jeder, der einen Schaden erlitten hat, in der Lage sein muss, den Ersatz des Schadens zu verlangen. Hinsichtlich der Dauer der Verjährungsfrist räumt der Generalanwalt zwar ein, dass die Jahresfrist der spanischen Rechtsvorschriften erheblich kürzer sei als die Fünfjahresfrist der Richtlinie, betont aber, dass weitere Elemente der nationalen Verjährungsregelung zu berücksichtigen seien.
Klage auch nach kürzerer spanischer Frist nicht verjährt
In Bezug auf den Starttag für die Berechnung der einjährigen Verjährungsfrist des Zivilgesetzbuchs vertritt der Generalanwalt den Standpunkt, dass diese Frist an dem Tag zu laufen beginne, an dem die Zusammenfassung des Beschlusses der Kommission im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werde, das heißt am 06.04.2017. Dies bedeute, dass die vom Erwerber der Lkw am 01.04.2018 angestrengte Schadensersatzklage nicht verjährt sei.
Datum der Pressemitteilung der EU-Kommission nicht relevant
Der Generalanwalt schließt es aus, dass diese Frist möglicherweise am Tag der Veröffentlichung der Pressemitteilung der Kommission über ihren die Zuwiderhandlung feststellenden Beschluss zu laufen beginne. Die bloße Veröffentlichung dieses Dokuments ermögliche es dem Geschädigten nämlich nicht, von allen Informationen Kenntnis zu nehmen, die für die Ausübung seines Rechts auf eine Schadensersatzklage erforderlich seien. Die Opfer von wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlungen unterlägen auch keiner "Sorgfaltspflicht", nach der sie die Veröffentlichung solcher Pressemitteilungen verfolgen müssten.
Frühere Vermutungsregelungen anwendbar
Schließlich führt der Generalanwalt aus, der Umstand, dass die in der Richtlinie vorgesehene Schadensvermutung in der vorliegenden Rechtssache keine Anwendung finde, hindere die nationalen Gerichte nicht daran, Vermutungen über die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines Schadens anzuwenden, die vor den jeweiligen nationalen Umsetzungsbestimmungen existiert hätten, deren Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Unionsrechts unter Berücksichtigung insbesondere der allgemeinen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu beurteilen sei.