Generalanwalt: Vertragsfreiheit steht Anwendung der HOAI-Mindestsätze entgegen

Ein nationales Gericht muss eine nationale Regelung (hier die HOAI), die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlegt, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt, unangewendet lassen, wenn es mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst ist, der auf diese Regelung gestützt ist. Diese Ansicht vertritt der EuGH-Generalanwalt Maciej Szpunar. Er stützt sich dabei auf die Dienstleistungsrichtlinie und das EU-Grundrecht der Vertragsfreiheit.

Ingenieurleistungen trotz vereinbarten Pauschalhonorars nach HOAI abgerechnet

2016 schlossen der Kläger des Ausgangsverfahrens, der ein Ingenieurbüro betreibt, und die Thelen Technopark Berlin GmbH einen Vertrag, in dem sich der Kläger verpflichtete, für die Thelen Technopark Berlin Ingenieurleistungen für ein Bauvorhaben in Berlin zu erbringen. Die Parteien vereinbarten, dass der Kläger für die erbrachten Leistungen ein Pauschalhonorar in Höhe von 55.025 Euro erhalten sollte. Auf der Grundlage der Abschlagsrechnungen des Klägers zahlte ihm die Thelen Technopark Berlin insgesamt einen Bruttobetrag von 55.395,92 Euro. 2017, nach Kündigung des Vertrags über die Erbringung von Ingenieurleistungen, rechnete der Kläger seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze gemäß der HOAI über einen höheren Betrag ab als den, der von den Parteien vertraglich vereinbart worden war. Anschließend verklagte er unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Überweisungen und des als Sicherheit einbehaltenen Betrags die Thelen Technopark Berlin auf den Restbetrag des geschuldeten Honorars in Höhe von 102.934,59 Euro brutto zuzüglich Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

Klage im Ausgangsverfahren zunächst erfolgreich

Der Klage wurde von den Gerichten der ersten und zweiten Instanz weitgehend stattgegeben. Der EuGH stellte mit Urteil vom 04.07.2019 fest, dass Deutschland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen hat, dass es verbindliche Honorarsätze für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren nach der HOAI beibehalten hat (NVwZ 2019, 1120). Zudem entschied der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Honorare zu vereinbaren, die die Mindestsätze der HOAI unterschreiten (BeckRS 2020, 1440).

BGH legt Sache EuGH zur Vorabentscheidung vor

Vor diesem Hintergrund legte der Bundesgerichtshof, der als Revisionsgericht mit dem Antrag der Thelen Technopark Berlin auf Abweisung der Klage befasst ist, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vor. Er wollte im Wesentlichen wissen, ob sich aus dem Unionsrecht ergebe, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, verpflichtet ist, eine Bestimmung des nationalen Rechts, aus der der Kläger seinen Klageanspruch ableitet, unangewendet zu lassen, wenn diese Bestimmung der Dienstleistungsrichtlinie widerspricht.

Generalanwalt: Nationales Recht in erster Linie richtlinienkonform auszulegen

Generalanwalt Maciej Szpunar weist zunächst darauf hin, dass die nationalen Gerichte verpflichtet seien, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen. Sie seien verpflichtet, die Bestimmungen des nationalen Rechts so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht werde. Erst wenn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sei, müsse ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst sei, eine der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet lassen. Hier habe das vorlegende Gericht die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Bestimmung ausgeschlossen. Deswegen sei zu prüfen, ob im vorliegenden Fall für das nationale Gericht Gründe dazu bestehen, die der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmung in dem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht anzuwenden.

Dienstleistungsrichtlinie konkretisiert Niederlassungsfreiheit

Der Generalanwalt stellt zunächst fest, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Dienstleistungsrichtlinie zwei Grundfreiheiten des Binnenmarkts, darunter die Niederlassungsfreiheit, habe umsetzen oder auch konkretisieren wollen. Die Dienstleistungsrichtlinie diene nicht dazu, ausgewählte Aspekte der Dienstleistungstätigkeit zu harmonisieren, sondern den Vertrag selbst zu präzisieren. Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie konkretisiere die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit. Es solle daher genauso zulässig sein, sich in einem Rechtsstreit gegen eine Privatperson auf die Bestimmungen dieses Kapitels zu berufen, wie es zulässig sei, sich in ähnlichen Situationen unmittelbar auf die Niederlassungsfreiheit des Vertrags zu berufen.

Dienstleistungsrichtlinie auch auf rein innerstaatliche Angelegenheiten anzuwenden

Gleichzeitig gälten, wie sich aus dem EuGH-Urteil "X und Visser" (EuZW 2018, 244) ergebe, die Bestimmungen des Kapitels III der Dienstleistungsrichtlinie auch in einer Situation, in der alle relevanten Sachverhaltselemente in nur einem Mitgliedstaat aufträten. Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie konkretisiere damit nicht nur die im Vertrag verankerte Niederlassungsfreiheit, sondern dehne auch die Grenzen ihrer Anwendung auf rein innerstaatliche Angelegenheiten aus. Folglich müsse ein nationales Gericht eine nationale Regelung, die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlege, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoße, unangewendet lassen, wenn es mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst sei, der auf diese Regelung gestützt sei, und eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sei.

Berufung auf Vertragsfreiheit in Rechtsstreitigkeiten mit anderen Privatpersonen  

Als Nächstes prüft der Generalanwalt die Möglichkeit, die streitige nationale Bestimmung nicht anzuwenden, weil sie gegen die in der Charta garantierte Vertragsfreiheit verstoße. Aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte gehe hervor, dass diese Freiheit Bestandteil der unternehmerischen Freiheit sei, um die es in Art. 16 der Charta gehe. Nach Auffassung des Generalanwalts ist die Vertragsfreiheit ein Recht, das sowohl in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als auch im Unionsrecht anerkannt sei. Sie verleihe Privatpersonen bestimmte Rechte, unter anderem das Recht der Vertragsparteien, den Inhalt des Rechtsverhältnisses durch die Festlegung des Preises für die Dienstleistung zu gestalten. Nach Ansicht des Generalanwalts handelt es sich bei Art. 16 der Charta, soweit er die Freiheit der Parteien bei der Festlegung des Preises für die Dienstleistung gewährleiste, um eine "eigenständige" Bestimmung, also um eine solche, die ausreichend sei, um Privatpersonen ein Recht zu verleihen, das sie in Rechtsstreitigkeiten mit anderen Privatpersonen als solches geltend machen könnten. Nach Einschätzung des Generalanwalts folgt aus der Vertragsfreiheit, dass der Einzelne das Recht auf Freiheit von Eingriffen in die Willensautonomie der Parteien eines Rechtsverhältnisses habe, sei es ein potenzielles oder ein bestehendes Rechtsverhältnis. Das wichtigste Mittel für Eingriffe in die Vertragsfreiheit bestehe darin, dass der Staat diese Freiheit einschränke. Daher könne der Schutz gegen einen solchen Eingriff in einem Rechtsstreit mit einer Vertragspartei, die ihr Recht aus einer solchen Einschränkung ableite, nur durch die Einrede der Rechtswidrigkeit der Freiheitseinschränkung erfolgen.

HOAI zur Wahrung der Vertragsfreiheit unangewendet zu lassen

Ihre Rechtmäßigkeit hänge wiederum davon ab, ob sie die Bedingungen erfülle, die die in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Einschränkungen der Rechte und Freiheiten erfüllen müssten. Dem Generalanwalt zufolge bedeutet die Feststellung des Gerichtshofs im Urteil vom 04.07.2019 (NVwZ 2019, 1120), dass die streitige Bestimmung des nationalen Rechts, die eine Einschränkung des Rechts zur freien Preisbestimmung vorsieht, mit der Bestimmung des Unionsrechts, die die Grenzen für den Erlass einer solchen Bestimmung festlegt, unvereinbar ist, dass die Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet bleiben müsse. Im Fall einer solchen Unvereinbarkeit stehe nämlich außer Zweifel, dass die im nationalen Recht vorgesehene Beschränkung des Rechts zur freien Bestimmung des Preises nicht den Voraussetzungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genüge. Daher hat, dem Generalanwalt zufolge, das nationale Gericht die streitige nationale Bestimmung, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoße, mit der Begründung unangewendet zu lassen, dass das Grundrecht der Vertragsfreiheit in Bezug auf das Recht der Parteien, den Preis festzulegen, gewahrt werden müsse.

EuGH, Schlussanträge vom 15.07.2021 - C‑261/20

Redaktion beck-aktuell, 16. Juli 2021.