Zum 150. Geburtstag Hugo Sinzheimers: Ein Strafverteidiger, der das Arbeitsrecht revolutionierte
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Hugo Sinzheimer hat die Wirklichkeit des Arbeitslebens ins Recht eingebracht, sogar das Grundgesetz trägt noch seine Handschrift. Gunter Lange skizziert Lebensweg und Wirken des Anwalts, Rechtswissenschaftlers und Lehrenden.

Am 9. November 1918 häutet sich das Deutsche Reich, streift endgültig die Monarchie ab und entfaltet sich als Republik. Ein denkwürdiger Tag auch für den Frankfurter Rechtsanwalt Hugo Sinzheimer: Der Arbeiter- und Soldatenrat ernennt als eine der ersten Amtshandlungen den stadtbekannten Strafverteidiger Sinzheimer zum provisorischen Polizeipräsidenten der Stadt. Der Jurist fährt mit der Straßenbahn zum Präsidium und übernimmt das Amt – bis April 1919. Dann kehrt er zurück in seine Kanzlei und widmet sich wieder mit Verve der sozialen Ausgestaltung des deutschen Arbeitsrechts. 

Strafrecht und Arbeitsrecht – liegen da nicht Welten zwischen? Für Hugo Sinzheimer nicht. Bei Arbeitskämpfen der aufstrebenden Gewerkschaftsbewegung im Kaiserreich handelten sich Streikende nicht selten Strafanzeigen ein und mussten sich vor Gerichten verantworten. Im Recht hatten sie insgesamt eine schwache Position und dies musste verändert werden, fand Sinzheimer. Die soziale Weiterentwicklung des Arbeitsrechts wurde sein Lebenswerk.

"Der Arbeiter soll frei und unabhängig sein"

Hugo Daniel Sinzheimer kam am 12. April 1875 in Worms als jüngster Sohn einer wohlhabenden, jüdischen Textilfabrikantenfamilie zur Welt. Nach dem Abitur studierte er ab 1894 Jura und Nationalökonomie, zunächst in München, dann in Berlin, Freiburg, Marburg und Halle. Nach drei Jahren legte er sein Erstes Staatsexamen ab und absolvierte sein Referendariat beim Amtsgericht in Bad Schwalbach/Taunus. Sein Interesse am Arbeitsrecht dürfte der Nationalökonom Ludwig-Joseph Brentano in München geweckt haben, der sich mit Gewerkschaften und genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft befasst hatte. Außerdem formten Vorlesungen beim jüdischen Religionsphilosophen Hermann Cohen in Marburg über Fragen der sozialen Ethik den angehenden Juristen, prägten dessen soziale Empathie für das Leid anderer. Sinzheimer wurde 1898 in Heidelberg promoviert. Seine Dissertation mit dem Titel "Lohn und Aufrechnung" widmete sich dem Aufrechnungsverbot, das Arbeitgebern untersagt, Forderungen gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegen deren Lohnansprüche aufzurechnen. "Der Arbeiter soll frei und unabhängig sein, nicht nur von gewissenlosen Zwischenhändlern, die ihn in Schuldknechtschaft zwingen, sondern auch von dem Wohlwollen des Fabrikherrn …", schrieb er in das Vorwort.

In der Frankfurter Goethestraße 36 eröffnete Hugo Sinzheimer seine Anwaltskanzlei, wohnte im gutbürgerlichen Westend. Seine Klientel kam hauptsächlich aus der Arbeiterschaft und er vertrat Gewerkschaften vor dem Reichsgericht in Leipzig. "Das Büro in der Goethestraße war die große Werkstatt des werdenden Arbeitsrechts", skizzierte später sein einstiger Assistent Ernst Fraenkel zutreffend. Sinzheimer hatte die Einschätzung seines Hochschullehrers Brentano noch im Ohr: "Die Arbeiter haben zwar das Koalitionsrecht, aber wenn sie davon Gebrauch machen, werden sie bestraft."

Zwar gab es seit 1873 Tarifverträge – 1906 galten bereits etwa 3.000 – aber sie waren rein privatrechtlicher Natur, boten keine allgemeine Rechtswirkung und waren nicht einklagbar. Deshalb plädierte Sinzheimer für eine neue eigenständige und gesetzliche Rechtsgrundlage, veröffentlichte 1907 seine Schrift "Der korporative Arbeitsnormenvertrag" und referierte darüber auf dem 29. Juristentag 1908 in Karlsruhe. Es folgte 1916 der Entwurf für ein "Arbeitstarifgesetz", in dem er einen neuen Grundsatz aufstellt: "Der Tarifvertrag will nicht nur ein Rechtsverhältnis, er will auch eine Rechtsquelle sein." Der rechtliche Charakter von Tarifnormen musste gesetzesgleiche Wirkung vermitteln, war er überzeugt, mit einem Tarifvertragsgesetz. Sinzheimer beanstandete auch die damalige Zersplitterung des Arbeitsrechts, das etwa zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Angestellten unterschied, und forderte ein einheitliches Arbeitsrecht mit einer einheitlichen Arbeitsgerichtsbarkeit. 

Sinzheimer brachte das soziale Arbeitsrecht in die Weimarer Verfassung ein

Hugo Sinzheimer verortete sich politisch als Liberaler im besten Wortsinn, wirkte als Arbeitsrechtler für alle drei Gewerkschaftsrichtungen: die freien, christlichen und liberalen Gewerkschaften und Verbände. Parteipolitisch engagierte er sich bei den Linksliberalen, weil sie soziale Reformen einforderten, und bei der 1908 gegründeten Demokratischen Vereinigung. Der junge Anwalt machte sich als gewandter Redner auf Juristentagungen einen Namen, beanstandete stets aufs Neue, dass der Staat sich einer Fortentwicklung des Arbeitsrechts widersetze, publizierte in den Fachzeitschriften, wurde gar Herausgeber. Nach den ersten Weltkriegsjahren schloss er sich der SPD an und wurde 1917 in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt. Nun war Sinzheimer auf dem politischen Parkett angekommen, das ihm im revolutionären November 1918 das Amt des Frankfurter Polizeichefs eintrug. Zur gleichen Zeit realisierte sich – ohne sein Zutun – sein arbeitsrechtliches Projekt: Am 15. November 1918 einigten sich Gewerkschaften und Spitzenverbände der Unternehmerinnen und Unternehmer auf ein Abkommen (Stinnes-Legien-Abkommen), das Tarifverträgen ganz nach Sinzheimers Vorstellung eine bessere Rechtswirkung zubilligte. Sein Entwurf für ein Arbeitstarifgesetz erlangte schließlich im Dezember 1918 als Tarifvertragsverordnung (TVO) quasi Gesetzeskraft.

Für Sinzheimer war eine auf einer Verfassung beruhende Rechtsordnung für eine deutsche Republik unverzichtbar und dafür stritt er in jenen Tagen. Als SPD-Abgeordneter der Verfassunggebenden Nationalversammlung, vor allem im Verfassungsausschuss, brachte er sein Rechtsverständnis in die Beratungen ein. Gleich mehrere Artikel der Weimarer Reichsverfassung (WRV) trugen Sinzheimers Handschrift. Besonders wichtig war ihm die verfassungsrechtliche Verankerung der Koalitionsfreiheit, nämlich mit Artikel 159: "Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern versuchen, sind rechtswidrig." Nicht minder wichtig war Artikel 157 WRV: "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht." Nach Sinzheimers Rechtsphilosophie bekam ein Aspekt eine herausragende Formulierung im Artikel 153 Abs. 3 WRV: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste."

Mit Artikel 165 der WRV, dem Räteartikel, tat er sich schwer. Hier sollte mit Arbeiter- und Wirtschaftsräten die Rätebewegung, die auch 1919 im Reich unübersehbar war, integriert werden. In der Verfassunggebenden Nationalversammlung war die Mehrheit der Auffassung, Rätedemokratie und parlamentarische Demokratie schlössen sich verfassungspolitisch aus. Sinzheimer sah das nicht anders. Und er formulierte einen Artikeltext, der für die Mehrheit auch tragfähig war. So skizzierte er die Arbeiterräte als mit den Unternehmerinnen und Unternehmern gleichberechtigte Mandatsträger zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen – ein Vorgriff auf das Betriebsrätegesetz und eine Fixierung der Tarifautonomie. Die im Artikel genannten Wirtschaftsräte blieben eine unerfüllte Vision. 

Seine letzten Jahre verbrachte er auf der Flucht vor den Nazis

Auch wenn sich Hugo Sinzheimer vergeblich um das Amt des Reichsarbeitsministers im Kabinett Otto Bauer beworben hatte, war die Weimarer Republik für ihn ein umtriebiges Jahrzehnt. Für den Deutschen Metallarbeiter Verband führte er Verfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig, brachte seine Ideen zum einheitlichen Arbeitsrecht in den vom Reichstag eingerichteten Ausschuss ein, wenngleich es nicht zu einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch kam. Erfolgreicher wirkte er an den Beratungen über die Einführung eines im Dezember 1926 vom Reichstag beschlossenen Arbeitsgerichtsgesetzes mit. Was Sinzheimer arbeits- wie verfassungsrechtlich zu Beginn der Weimarer Republik erfolgreich festgezurrt hatte, die Tarifautonomie, geriet Ende der 1920er Jahre unter Druck. Schlichtungsverfahren hebelten sie zunehmend aus, spätere Zwangsschlichtungen desavouierten sein Credo von der Tarifautonomie. Zu Beginn der 1930er-Jahre musste Sinzheimer sein rechtliches Konstrukt der sozialen Selbstbestimmung der Arbeiterschaft, bestehend aus Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung und Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zunehmend als gescheitert wahrnehmen. Seine Stimme verstummte dann in der juristischen Publizistik.

Ihm blieb als Arbeitsschwerpunkt die maßgeblich von ihm in Frankfurt 1921 errichtete Akademie der Arbeit. Ihr Ziel: Der in der Republik nunmehr mit neuen Mitwirkungsrechten versehenen Arbeiterschaft beizubringen, wie sie diese nutzen konnten. Recht und Ökonomie waren die Schwerpunkte der Lehrveranstaltungen, an denen Sinzheimer sich selbst intensiv beteiligte. Die Mehrzahl der Studierenden kam aus den Gewerkschaften, die Absolventinnen und Absolventen prägten die Gewerkschaftspolitik in der Weimarer Republik. 

Für den leidenschaftlichen Juristen Hugo Sinzheimer kam 1933 ein jähes Ende. Im März wurde er verhaftet, verließ nach seiner Freilassung Deutschland und ging in die Niederlande, brachte sich mit seinem Wissen in die dortige Rechtswissenschaft ein. Nach dem Wehrmachtsüberfall auf das Land 1940 wurde er erneut verhaftet, entging nur knapp dem Abtransport in ein KZ, überlebte in wechselnden Verstecken gesundheitlich angeschlagen. Am 16. September 1945 starb Sinzheimer entkräftet an den Folgen eines Schlaganfalls.

Folgenlos blieb sein Wirken nicht. Sein Verfassungs- und Rechtsverständnis schlug sich auch noch in den Beratungen zum Grundgesetz nieder, das bis heute die Vereinigungsfreiheit und die Sozialverpflichtung des Eigentums enthält. Auch das Tarifvertragsgesetz von 1949 ist weitgehend an Sinzheimers Entwurf orientiert. Die Akademie der Arbeit, 1933 von den Nazis geschlossen, lebte in Frankfurt wieder auf. 2010 gründete die IG Metall in Frankfurt das Hugo-Sinzheimer-Institut, das sich der Weiterentwicklung des Arbeitsrechts widmet. Zum 90-jährigen Jubiläum der Akademie im Jahr 2011 würdigte der damalige Präsident des BSG Peter Masuch den Rechtswissenschaftler Sinzheimer: "Er steht wie kaum ein anderer für die aktive Entfaltung des Arbeitsrechts im demokratischen Rechtsstaat."

Gunter Lange ist Gewerkschafter, Journalist, Sachbuchautor und war Chefredakteur der DAG-/ver.di-Publikationen.

Gastbeitrag von Gunter Lange, 11. April 2025.

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