Frühere Kindergeld-Regelung für Nicht-EU-Ausländer verfassungswidrig
Lorem Ipsum
© FM2 / stock.adobe.com

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Kindergeldregelung für verfassungswidrig und nichtig erklärt, die von 2006 bis 2020 in Kraft war und vorsah, dass nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, denen der Aufenthalt in Deutschland aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt war, einen Kindergeldanspruch nur dann hatten, wenn sie neben einem dreijährigem Aufenthalt auch bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllten. Die Vorschrift habe gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.

Kindergeldanspruch von Integration in den deutschen Arbeitsmarkt abhängig

Bei der Vorschrift handelt es sich um § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.12.2006 (im Folgenden: EStG 2006). Nach § 62 Abs. 2 EStG 2006 war die Gewährung von Kindergeld an nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige davon abhängig, über welche Art von Aufenthaltstitel sie verfügen: Während jene mit (stets unbefristeter) Niederlassungserlaubnis (§ 62 Abs. 2 Nr. 1 EStG 2006) und jene mit (befristeter) Aufenthaltserlaubnis, sofern diese eine Erwerbstätigkeit erlaubte oder erlaubt hatte (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG 2006), einen Kindergeldanspruch hatten, waren solche, denen der Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt war, nur dann anspruchsberechtigt, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllten (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006). Mehrere nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Eltern mit Wohnsitz im Inland klagten gegen Kindergeldablehnungen, das FG Niedersachsen rief das BVerfG an.

BVerfG: Vorschrift verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz

BVerfG hat § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Die Regelung bewirke eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen von Ausländern mit humanitärem Aufenthaltstitel. Diese Ungleichbehandlung entfalle nicht dadurch, dass das Fehlen eines Kindergeldanspruchs im Regelfall durch den Anspruch auf Sozialleistungen kompensiert wird. Denn auch in diesem Fall könne es zu einer wirtschaftlichen Schlechterstellung derjenigen Ausländer kommen, die keinen Kindergeldanspruch haben. Mit erheblichen finanziellen Nachteilen könne der Wegfall des Kindergeldanspruchs auch dann verbunden sein, wenn die Betroffenen über eigenes Vermögen verfügen und daher ‒ trotz fehlenden Erwerbseinkommens ‒ keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. 

Differenzierungskriterium für Zweckerreichung ungeeignet

Die Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Das Kriterium der Integration in den Arbeitsmarkt sei nicht geeignet, um den Zweck der Vorschrift zu erreichen, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten werden. Der Schluss, dass ohne Erwerbstätigkeit keine zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts möglich ist, sei nicht haltbar. Gerade bei humanitären Aufenthaltstiteln hänge die Aufenthaltsdauer in der Regel stärker von der Situation in den Herkunftsstaaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung ab. Ferner stehe es der Aussicht auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel nicht zwingend entgegen, wenn die in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 geforderte Integration in den Arbeitsmarkt im Zeitpunkt der Entscheidung nicht erfüllt sei. Denn maßgeblich dafür sei, ob angenommen werden könne, dass der Betroffene in der Zukunft auf Dauer erwerbstätig sein wird. Insofern werde es der tatsächlichen Situation der Betroffenen auch nicht gerecht, einen kurzen Zeitraum des Bezugs von Arbeitslosengeld II als Indiz gegen eine Arbeitsmarktintegration zu werten.

Keine anderen Differenzierungsgründe erkennbar

Schließlich fehlten auch andere Differenzierungsgründe. Insbesondere, soweit der BFH der Auffassung sei, § 62 Abs. 2 EStG 2006 diene auch dem Zweck, Zuwanderungsanreize insbesondere für kinderreiche Ausländer abzubauen ("keine Zuwanderung in Sozialsysteme"), sei eine dahingehende Entscheidung des Gesetzgebers nicht erkennbar. Entsprechendes gelte für wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Zwar handele es sich auch dabei um einfachgesetzlich geregelte Belange im Aufenthaltsrecht, die grundsätzlich als Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung in Betracht kommen könnten. Doch auch diese Zielsetzung sei bei der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG 2006 nicht erkennbar verfolgt worden.

Vorschrift inzwischen geändert

Nach Einleitung des Vorlageverfahrens wurde die Norm mit Wirkung zum 01.03.2020 geändert. Nach dem in die Vorschrift neu eingefügten § 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nunmehr Kindergeld, wenn er einen der in Nr. 2 Buchst. c genannten humanitären Aufenthaltstitel besitzt und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält. Auf eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt kommt es in dieser Variante nicht mehr an.

BVerfG, Beschluss vom 28.06.2022 - 2 BvL 9/14

Miriam Montag, 3. August 2022.