Linguistische Gutachterin: "Manche versuchen, sich auszudrücken wie ein Jurist"
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Isabelle Thormann analysiert für Gerichte, wer ein Erpresserschreiben verfasst hat oder ob das hingekritzelte Vermächtnis wirklich vom Verstorbenen stammt. Nicht anhand der Schrift, sondern anhand der Sprache. Ein Interview darüber, was der Idiolekt über Menschen verrät - und über das "Juristen-E".

beck-aktuell: Frau Dr. Thormann, Ihr Fachgebiet ist die Forensische Linguistik – was verbirgt sich dahinter?

Thormann: Das ist Sprachwissenschaft, angewandt auf kriminologische Fragen. Bei der sehr wichtigen Disziplin der sogenannten Authentizitätsfeststellung, die früher Autorenbestimmung hieß, dreht es sich fast immer um die Frage: Hat jemand einen bestimmten Text verfasst oder nicht? Dabei geht es oft um strafrechtliche Sachverhalte wie Erpresserschreiben oder Verleumdungen. Aber es gibt auch andere Einsatzgebiete – etwa, wenn jemand einen Brief findet, in dem steht: "Mein Lieblingsneffe ist der Michael und der soll alle meine Immobilien bekommen, wenn ich mal sterbe."

beck-aktuell: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Forensischer Linguistik zu befassen? Das Fachgebiet dürfte vielen kein Begriff sein.

Thormann: Da war, wie es oft so ist, ein bisschen Zufall im Spiel. Ich habe damals an meiner Doktorarbeit geschrieben – auch in Linguistik, aber im Bereich Fachsprachendidaktik – und war bei einem Forschungsaufenthalt an der University of California in Los Angeles. Dort habe ich an Konferenzen teilgenommen und dabei die Forensische Linguistik entdeckt. Zurück in Deutschland habe ich zunächst meinen ursprünglichen Plan verfolgt, habe meine Promotion abgeschlossen und mich weiter mit Fachsprachendidaktik befasst. Aber ich hatte die ganze Zeit Kontakt mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den USA.

beck-aktuell: Das Thema hat Sie also nicht losgelassen.

Thormann: Ich wurde dann Mitglied in einem internationalen Verband und habe festgestellt, dass sich in Deutschland auf diesem Gebiet nicht viel tat. Forensische Linguistik wurde fast nur vom BKA betrieben. Und es gab einen inzwischen emeritierten Professor an der Universität Bonn, Hannes Kniffka; der war in diesem Bereich sehr aktiv.

beck-aktuell: Wie haben Sie sich dieses spezielle Fachwissen dann angeeignet? 

Thormann: Das war in den USA. Aber ich hatte ja ohnehin schon Linguistik studiert und darin promoviert. Forensische Linguistik ist die Anwendung der Sprachwissenschaft auf eine bestimmte Art von Texten.

"Jeder Mensch drückt sich anders aus"

beck-aktuell: In Ihrem Buch, auf das wir gleich noch zu sprechen kommen, schreiben Sie, die beste Möglichkeit, den Verfasser oder die Verfasserin eines Textes zu erkennen, sei über den Idiolekt der Person. Was verbirgt sich dahinter?

Thormann: Das ist der allerwichtigste Begriff, der auch für meine Studierenden zum absoluten Minimal-Vokabular gehört. Es ist die Ausdrucksweise eines bestimmten Menschen. Jeder Mensch drückt sich anders aus; jeder hat eine andere Geschichte, hatte andere Eltern, eine andere Umgebung, Hobbys und Ausbildung. All das beeinflusst den Idiolekt.

beck-aktuell: Der Idiolekt, sagen Sie, ist etwas sehr Individuelles, gewissermaßen ein sprachlicher Fingerabdruck?

Thormann: Diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Aber der Idiolekt ist nicht zu vergleichen mit dem daktyloskopischen Fingerabdruck; das geht mit dieser Genauigkeit einfach nicht. Und die Frage, ob ein Text von einer Person stammt, kann man seriös nur mit Wahrscheinlichkeits-Stufen beantworten. Es gibt auch die Stufe "Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit". Dieses Urteil ist bei mir aber noch nie vorgekommen.

beck-aktuell: Sie sind die deutschlandweit einzige öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Forensische Linguistik und arbeiten oft für die Justiz. Sie haben schon erwähnt, dass es häufig um Erpresserbriefe, Verleumdungen oder auch Vermächtnisse geht. In welchen Fragen ist Ihre Expertise vor Gericht außerdem gefragt?

Thormann: Ein Beispiel: Ein Unternehmen möchte einen Mitarbeiter loswerden. Es wäre also für dieses Unternehmen schön, wenn dieser Mensch irgendetwas Verbotenes täte, das eine Kündigung rechtfertigen würde. Da kommt es leider vor, dass der Arbeitgeber auf die Idee kommt, einen Brief mit einem antisemitischen Text zu verfassen und zu behaupten, der betreffende Mitarbeiter hätte ihn geschrieben. Rein technisch ist es ja kein Problem, das E-Mail-System so zu manipulieren, dass es so aussieht, als stamme die E-Mail von dem Account dieser Person, aber sprachlich ist das schon schwieriger. 

"Viele meinen, man könnte aus Social-Media-Nachrichten nichts rauslesen"

beck-aktuell: Und nun werden Sie vom Arbeitsgericht im Kündigungsschutzverfahren beauftragt, das zu überprüfen. Wie geht es dann weiter? Welches Vergleichsmaterial ziehen Sie heran und wo fangen Sie überhaupt an?

Thormann: Das kann alles sein: Briefe, E-Mails, auch Telegram-, WhatsApp- oder Social-Media-Beiträge. Letztere Textsorten kommen natürlich immer häufiger vor; schließlich schreibt heute kaum noch jemand Briefe. 

beck-aktuell: Auf diesen Plattformen drücken sich Menschen meist ganz anders aus als in Briefen, oder?

Thormann: In der Tat. Dort gibt es meist gar keine vollständigen Sätze, sodass viele meinen, man könnte da nichts rauslesen.

beck-aktuell: Aber das können Sie?

Thormann: Ja. Die Kommunikation in den sozialen Medien und auf Internet-Plattformen zeichnet sich häufig dadurch aus, dass Satzteile weggelassen werden, und man kann untersuchen, welche. Bei "Ich auch" fehlt z. B. das Prädikat, bei "Kein Problem" fehlt außerdem das Subjekt. 

Das Juristen-E: "Zum Zwecke, im Falle, des Vertrages"

beck-aktuell: Worauf schauen Sie noch, wenn Sie den Idiolekt einer Person feststellen?

Thormann: Es gibt sehr unterschiedliche Phänomene. Manche Verfasser formulieren sehr verschachtelte Sätze mit vielen Nebensätzen bzw. versuchen es. Oft geht das schief. Da schaue ich mir an, was für Nebensätze die Person bevorzugt: Sind es eher Relativsätze oder Adverbialsätze? Manche Leute beginnen ihre Sätze auffällig oft mit "Es", und zwar manchmal, um zu vermeiden, dass der Satz mit einem "Dass" beginnen würde. Sie schreiben lieber: "Es stört mich, dass Tim schmatzt" statt "Dass Tim schmatzt, stört mich". Solche Dinge sind idiolektal, also ein Hinweis auf den Idiolekt der Person. 

Etwas, das sehr häufig vorkommt, ist die Bemühung, gebildet zu wirken. Das findet sich oft bei Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau. Eine weitere Strategie ist, sich auszudrücken wie ein Jurist.

beck-aktuell: Interessant. Wie kommen die Menschen darauf, ausgerechnet das Juristen-Deutsch dafür heranzuziehen?

Thormann: Das sind meist Menschen, die schon öfter Rechtsstreitigkeiten, oft auch Strafverfahren gegen sich laufen hatten und dabei mit Anwältinnen und Anwälten zu tun hatten, Schriftsätze gelesen und Einsicht in Akten genommen haben. Wenn sie dann die Juristen-Sprache lesen, denken sie: Ach, das klingt gut, das klingt gebildet, so werde ich mich in Zukunft auch ausdrücken.

beck-aktuell: Woran erkennen Sie denn die Juristen-Sprache in Texten, die Sie analysieren?

Thormann: Die Menschen versuchen etwa, besonders lange, verschachtelte und komplexe Sätze zu formulieren. Was man oft als erstes bemerkt, ist das Juristen-E.

beck-aktuell: Das müssen Sie näher erklären.

Thormann: Zum Beispiel in "zum Zwecke", "im Falle", "des Vertrages".  Sie versuchen, sich auszudrücken wie ein Jurist, weil sie glauben, dass der Leser oder die Leserin sie dann für besonders intelligent, gebildet und glaubwürdig hält.

"Gefahr, dass Menschen glauben, Software könne alles"

beck-aktuell: Ändert sich der Idiolekt im Laufe des Lebens?

Thormann: Ja, er verändert sich. Deshalb gibt es auch bestimmte Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um Texte miteinander vergleichen zu können. Sie müssen aus einer ähnlichen Zeit stammen, aber es dürfen auch keine unterschiedlichen Textsorten sein. Sie können schließlich keinen Liebesbrief mit einem Kochrezept vergleichen.

beck-aktuell: Nutzen Sie für Ihre Textanalyse auch Software? Gibt es in diesem Bereich auch Programme, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten?

Thormann: Ja, es gibt teilweise gute Software und die nutze ich auch. Die Software scannt dann beispielsweise, ob in einem Text bestimmte Wörter häufig bzw. in speziellen Konstellationen, sogenannten Kookkurrenzen, vorkommen. Das ist auch bei großen Textmengen hilfreich. Es besteht aber die Gefahr, dass Menschen glauben, diese Software könne alles. Man muss das nötige Fachwissen haben, um die Software sinnvoll einzusetzen, und besonders hilfreich wird es, wenn KI ins Spiel kommt und – nach entsprechendem Training – bestimmte Aufgaben beim Textvergleich abarbeitet. 

beck-aktuell: Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Tatort Syntax". Damit richten Sie sich explizit auch an Richterinnen und Richter. Warum sind Sie der Meinung, dass sie dieses Buch lesen sollten?

"Sie versuchen, Richter mit bunten Grafiken und vielen Zahlen zu beeindrucken"

Thormann: Ich möchte vor allem dafür sensibilisieren, wie Forensische Linguistik seriös betrieben wird. Ich arbeite seit 2010 als öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige und erlebe es häufig, dass in Gerichtsverfahren eine Partei ein Gutachten präsentiert, das methodisch nicht haltbar ist. Da wir gerade davon sprachen: Diese Gutachten stammen teils von Leuten, die glauben, sie könnten einfach eine Software kaufen und diese feststellen lassen, von wem ein Schriftstück stammt. Da wird dann versucht, Richterinnen und Richter zu beeindrucken - mit bunten Grafiken, vielen Zahlen und Tabellen und Anhängen, die zigmal länger sind als das Gutachten selbst.

beck-aktuell: Sie haben bereits angedeutet, dass die Forensische Linguistik in Deutschland ein Schattendasein fristet. Geht es Ihnen auch darum, Ihr Fachgebiet bekannter zu machen?

Thormann: Ja, das ist der andere Grund, weshalb ich das Buch geschrieben habe. Im Ausland wird viel mehr Geld in diesem Bereich ausgegeben. Wenn ich auf internationale Konferenzen reise, sind wir Deutschen immer deutlich in der Minderheit. Andere Länder, besonders England und die USA, investieren da viel mehr. Und ich werde diesen Job auch nicht ewig machen. Insofern wäre es schön, wenn auch in Deutschland mehr Professuren geschaffen würden.

beck-aktuell: Frau Dr. Thormann, vielen Dank für Ihre Zeit!

Dr. Isabelle Thormann ist seit 2010 öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für forensische Linguistik, lehrt an der TU Braunschweig forensische Linguistik und ist Verfasserin diverser Veröffentlichungen, u. a. zur forensischen Linguistik und Rechtssprache.

Ihr Buch "Tatort Syntax – Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik" ist im Juli im Narr Francke Attempto Verlag erschienen. 

Das Interview führte Maximilian Amos.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 10. September 2024.