Fabian von Schlabrendorff: Der Verfassungsrichter, der Hitler töten wollte
Die Angeklagten Eugen Bolz, Kempner, Hermes und Fabian von Schlabrendorff (v. l. n. r.) zwischen den bewachenden Polizeibeamten in ihrem Prozess vor dem Volksgerichtshof nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944.
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Die Angeklagten Eugen Bolz, Kempner, Hermes und Fabian von Schlabrendorff (v. l. n. r.) zwischen den bewachenden Polizeibeamten in ihrem Prozess vor dem Volksgerichtshof nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944.

Monarchistisch gesinnt und Jurastudent von adeliger Herkunft, Offizier im Widerstand gegen Hitler, Angeklagter vor dem Volksgerichtshof, schließlich Richter am Bundesverfassungsgericht: Dem ungewöhnlichen Juristenleben Fabian von Schlabrendorffs ist Sebastian Felz nachgegangen.

Zwei präparierte Cognacflaschen "Cointreau" sollten den Diktator töten. Am 13. März 1943 besuchte Hitler den Stab der Heeresgruppe Mitte in Smolensk. Fabian von Schlabrendorff, Leutnant der Reserve und Adjutant von Generalstabsoffizier und Verschwörer Oberst Henning von Tresckow, überredete einen Offizier in Hitlers Flugzeug, die zwei Flaschen als "Wettschulden" mit nach Berlin zu nehmen. Schlabrendorff stellte den chemischen Zünder auf 30 Minuten ein. Wie alle ca. 40 Attentatsversuche auf Hitler scheiterte auch diese Aktion. Der Diktator landete in Rastenburg, von wo Schlabrendorff am nächsten Tag mit Glück das Paket abholen konnte und erkannte, dass die Wucht des Schlagbolzens nicht ausgereicht hatte – wahrscheinlich aufgrund der Kälte – den Sprengstoff zu entzünden. Wenige Tage später, am 21. März 1943, scheiterte der Offizier Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff daran, mit Sprengstoff, der ihm von Schlabrendorff übergegeben worden war, Hitler während eines Rundgangs durch eine Ausstellung erbeuteter sowjetischer Waffen zu töten. 

Diese zwei Attentatsversuche und die Mitwirkung von Fabian von Schlabrendorff auch am 20. Juli 1944 zeigen dessen herausgehobene Stellung im militärischen Widerstand. Wer war der Mann, der die Verbindung zwischen Tresckow und den Verschwörern in Berlin wie z. B. Ludwig Beck, Carl Friedrich Goerdeler, Hans Oster und Friedrich Olbricht bildete?

Ein Jurist im Widerstand gegen den Nationalsozialismus

In seiner Biografie Schlabrendorffs ist Mario H. Müller dessen Entwicklung vom monarchistischen Jurastudenten zum Offizier und schließlich zum Widerstandskämpfer nachgegangen. Der Historiker hatte erstmals die Möglichkeit, den Nachlass Schlabrendorffs auszuwerten. Dazu gehören insbesondere der Briefwechsel mit seiner Mutter, seinen Schwestern oder dem Göttinger Staatsrechtslehrer Rudolf Smend.

Schlabrendorff beschrieb seine Herkunft selbst wie folgt:

"Als Produkt einer Ehe, die väterlicherseits sich als alte preußische und konservative Familie charakterisiert, während die mütterliche Familie jungen Ursprunges ist und aus dem Frankenland stammend liberalen Idee huldigt, erblickte ich am 1. Juli 1907 das Licht der Welt. Nach Besuch eines humanistischen Gymnasiums studierte ich die Rechte und Volkswirtschaft an den Universitäten Berlin und Halle an der Saale. Die Umstände der damaligen Zeit gaben mir Veranlassung, mich des Öfteren dem Soldatenberuf zuzuwenden. Die Ablegungen der juristischen Staatsexamina versetzten mich in die Lage, den Beruf des Rechtsanwalts und Notar zunächst in Berlin, später in Wiesbaden auszuüben."

Mütterlicherseits gehörte zu Schlabrendorffs Vorfahren Christian Freiherr von Stockmar (1787-1863), der zunächst dem Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha als König Leopold I. auf den belgischen Thron verhalf und dann als Hauslehrer und späterer Berater der englischen Königin Victoria I. die englische Politik beeinflusste. Väterlicherseits finden sich Kapitäne, Majore oder Generalleutnante der preußischen Armee. Schlabrendorff war keineswegs von Beginn an ein Gegner der Nationalsozialisten: Als Student schrieb er für Organe des radikal-nationalistischen "Alldeutschen Verbandes" oder die "Deutsche Zeitung" des Medienmoguls und DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenbergs. Er wurde Mitglied der Jugendorganisation des DNVP-nahen "Stahlhelms", dem "Bund der Frontsoldaten". 1931 befürwortete er wie Hugenberg die Zusammenarbeit von NSDAP und DNVP. Auf einer Tagung des national-völkischen "Hochschulrings Deutscher Art" lernte er den christlich-monarchistischen Rittergutsbesitzer Ewald von Kleist-Schmenzin kennen, der Schlabrendorff zum konservativen Anti-Nazi machte. Im Mai 1932 berichtete eine NS-Zeitung von einer "einzigen Schimpfkanonade gegen die Nationalsozialisten" Schlabrendorffs. In dieser Zeit skizzierte er in der Abhandlung "Weg und Wille eines Konservativen" vier Unterschiede zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus: Die antiliberale Wirtschaftspolitik des Nationalsozialismus sowie die Verwurzelung des Konservativen im christlichen Glauben, sein Einsatz für die Restauration der Monarchie und für die Wiedererlangung der Kolonien und Südtirols. 

Im Frühjahr 1933 wurde Schlabrendorff Mitarbeiter des Reichstagsabgeordneten und DNVP-Reichsjugendführer der DNVP, Herbert von Bismarck. Bismarck und Kleist-Schmenzin waren konservative Hitlergegner. Ihre Wohnungen wurden 1933 durchsucht, Kleist-Schmenzin wurde inhaftiert und wäre fast der NS-Mordaktion am 30. Juni 1934 ("Röhm-Putsch") zum Opfer gefallen. Schlabrendorff erkrankte zu Beginn der NS-Diktatur schwer und verlor seinen Job bei Bismarck. 1937 absolvierte er sein zweites Examen und verlobte sich 1938 mit Luitgard von Bismarck, der Tochter seines frühen Chefs. Die Hochzeitsreise ein Jahr später nutzte der frisch Vermählte, um – nach eigenen Angaben – den englischen Oppositionsführer Winston Churchill über Hitlers Kriegspläne zu unterrichten. Zu diesem Zeitpunkt war er schon Soldat von Hitlers Wehrmacht. Im Sommer 1939 lernte er Henning von Tresckow kennen, der ab Frühjahr 1941 im Generalstab der Heeresgruppe Mitte Mitverschwörer, wie z. B. Schlabrendorff, positionierte. 

Freisler soll mit seiner Akte in der Hand gestorben sein

Auch wenn durch die Offiziere der Heeresgruppe Mitte verschiedene Attentatsversuche initiiert wurden, richtet der Biograf Mario H. Müller seinen Fokus auch auf eine Historikerkontroverse aus dem Jahr 2004, in der die Frage diskutiert wurde, inwieweit die Offiziere im Stab der Heeresgruppe Mitte wie Tresckow oder Schlabrendorff die Massenerschießungen und Kriegsverbrechen in den ersten Monaten des Krieges gegen die UdSSR gebilligt hatten. Müller sieht Schlabrendorff aufgrund seiner weit zurückreichenden NS-Gegnerschaft jedoch in fundamentaler Opposition gegen den Hitlerstaat.

Nach dem Scheitern des Staufenberg-Attentats am 20. Juli 1944 brachte sich Tresckow um und Schlabrendorff wurde verhaftet. Nachdem man ihn im Gestapo-Quartier gefoltert hatte, wurde er ins KZ Sachsenhausen verbracht und mit einer Scheinhinrichtung gequält. Schlabrendorff wurde danach aus der Wehrmacht ausgestoßen und vor dem Volksgerichtshof angeklagt. In seiner Darstellung über den deutschen Widerstand mit dem Titel "Offiziere gegen Hitler" schreibt er, dass am 3. Februar 1945 seine Verhandlung angesetzt war. Jedoch zerstörte ein Bombentreffer große Teile des Gerichtsgebäudes, wobei der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, starb. Er soll nach Schlabrendorffs Darstellung dessen Akte in der Hand gehalten haben. In den letzten Kriegstagen wurde der Verschwörer durch die SS als "Sonderhäftling" in die "Alpenfestung" verschleppt.

Verteidiger des Widerstandes und Verfassungsrichter

Nach Kriegsende und Befreiung war Schlabrendorff zunächst Berater der Alliierten im Hauptkriegsverbrecherprozess. Er äußerte sich zu den Anklagepunkten "Verschwörung gegen den Frieden" bzw. "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" befürwortend sowie zur – aus seiner Sicht nachrangigen – Verantwortlichkeit des Generalstabs und der christlichen Kirchen für die NS-Verbrechen. Er setzte sich publizistisch mit seinem Buch "Offiziere gegen Hitler", sozial als Mitgründer des "Hilfswerks 20. Juli" und juristisch als Rechtsanwalt für Widerstandskämpfer sowie deren Hinterbliebenen ein, die um ihre Entschädigung oder ihre Ehre kämpften. Auch trat er als historischer Sachverständiger im Remer-Prozess auf, den Fritz Bauer gegen den Verleumder des militärischen Widerstandes, Ernst Otto Remer, in Braunschweig initiiert hatte. 

1967 wurde Schlabrendorff Richter am Bundesverfassungsgericht, dem er bis 1975 angehörte. Er wirkte z. B. am Abhörteil (BVerfGE 30, 1), an der Entscheidung „Eidesverweigerung aus Glaubensgründen“ (BVerfGE 33, 23), „Grundrechtsverwirkung Gerhard Frey“ (BVerfGE 38, 23) und dem Urteil über den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (BVerfGE 36, 1) mit. 

Abweichende Voten zwischen Individualrechten und Staatsraison

Seit 1970 war es den Richterinnen und Richtern des BVerfG unter ihrem Namen möglich, Sondervoten zur Senatsmehrheitsmeinung zu veröffentlichen. Schlabrendorffs abweichende Voten changieren zwischen Freiheitssicherung des Einzelnen und religiös fundiertem Gemeinschafts- und Staatsverständnis. Als am 4. Januar 1971 das erste Sondervotum veröffentlicht wurde, schrieb er gemeinsam mit den Richtern Geller und Rupp zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses im "Abhörurteil": "Der Gesetzgeber, auch der verfassungsändernde, hat daher bei Regelung der Gefahrenabwehr – etwa im Bereich der Verbrechensbekämpfung oder der im Wesen nicht anders gearteten Tätigkeit der Geheimdienste – die Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen unter Berücksichtigung des Wertes, den das Grundgesetz den Individualrechten beimisst. Die 'Staatsraison' ist kein unbedingt vorrangiger Wert. Verkehrt der Gesetzgeber die Schranken, so kehrt die 'Streitbare Demokratie' sich gegen sich selbst." In seinem Sondervotum zur Entscheidung über die Eidesverweigerung schrieb Schlabrendorff: "Der Staat ist die von Gott gestiftete Erhaltungsordnung. Diese Erhaltungsordnung zu bewahren, ist die irdische Aufgabe des Menschen. Dazu dient der Eid. Er ist ein Mittel zur Erzeugung von Wahrheit und Treue gegenüber den einzelnen Staatsbürgern, dem Volke und dem Staat. Will der Staat seiner Erhaltungsaufgabe gerecht werden, so muss er einen Damm gegen die Flut der Zerfallserscheinungen errichten."

Mario H. Müller hat in seiner Biografie den Menschen und Juristen Fabian von Schlabrendorff stark konturiert und den historischen Kontext seines Lebens umfassend mitgezeichnet. Das Forschungsfeld "Juristen im Widerstand" (zuletzt Heiko Maas (Hrsg.), Furchtlose Juristen, München 2017 oder Stiftung Adam von Trott, Imshausen e.V. (Hrsg.), Die Rolle der Juristen im Widerstand gegen Hitler, Baden-Baden 2017) wird durch die Arbeit von Mario Müller um eine wichtige Perspektive erweitert. Das Leben von Fabian von Schlabrendorff stand in dem für einen Juristen heftigen Spannungsfeld, dass dieser am 20. Juli 1957 im Ehrenhof des Bendler-Blocks in Berlin zum Gedenken an die hingerichteten Hitler-Attentäter so ausdrückte:

"Es gibt eben Zeiten, in denen muss – um das Recht wiederherzustellen – das Gesetz gebrochen werden."

Mario H. Müller, Fabian von Schlabrendorff, Ein Leben im Widerstand gegen Hitler und für Gerechtigkeit in Deutschland, Berlin 2023, BeBra Wissenschaft Verlag, Widerstand im Widerstreit, Band 4, 384 Seiten Gebundene Ausgabe, ISBN 978-3954103126, 40 €

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Mitglied des Vorstandes des "Forum Justizgeschichte".

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz, 23. September 2024.