Experten uneins über geplante Rentenanpassung 2022

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Rentenanpassung 2022 sowie zur Verbesserung von Leistungen für Erwerbsminderungsrentner (BT-Drs.:20/1680) ist in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 30.05.2022 kontrovers beurteilt worden. Die Sachverständigen waren unterschiedlicher Auffassung in Bezug auf die geplante Wiedereinführung des Nachholfaktors in der gesetzlichen Rentenversicherung.

DRV hält Umsetzung bis zum 01.07.2024 für “ambitioniert“

Weitgehend begrüßt wurden die vorgesehenen Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, wenngleich der Zeitpunkt 01.07.2024, ab dem die Regelung erst greifen soll, auf Kritik stieß. Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) hielt die Umsetzung bis zu diesem Zeitpunkt für "ambitioniert", aber machbar. Für die Umsetzung seien erhebliche Ressourcen in der IT der DRV erforderlich. Gleichzeitig gelte es aber auch, schon beschlossene Gesetze umzusetzen sowie Rentenanpassungen mit veränderten Beitragssätzen in der Krankenversicherung vorzunehmen. Eine frühere Umsetzung der Änderungen bei den Erwerbsminderungsrenten sei daher technisch nicht umsetzbar, sagte der DRV-Vertreter.

Kritik an später Auszahlung

Die Caritas begrüßte die Verbesserungen für die Erwerbsminderungsrentner als “zielgenau und bürokratiearm“. Allerdings sei der Auszahlungszeitpunkt deutlich zu spät angesetzt. Sollte eine Auszahlung nicht zum Januar 2023 möglich sein, müsse der Zuschlag ohne Verrechnung mit anderen Leistungen 2024 für das Vorjahr nachgezahlt werden. Kritik an der späten Auszahlung gab es auch vom Bundesverband Rehabilitation. Zu bemängeln seien außerdem aufgeblähte und nicht nachvollziehbare Regelungen bei der Rentenanpassung. Die Berechnungsformel für die jährliche Rentenanpassung müsse verständlicher werden. Ziel müsse die praktische Anwendbarkeit und ausreichende Verständlichkeit sein, nicht die maximale Regelungstiefe.

Wirtschaftswissenschaftler zur Wiedereinführung des Nachholfaktors

Dem Sozialverband VdK Deutschland zufolge zeigt der gewählte Termin für die Einführung der Regelung bei den Erwerbsminderungsrenten, dass die Politik eine frühere Einführung aus finanziellen Gründen offenbar nicht wolle. Positiv sei die geplante allgemeine Rentenanpassung zum 01.07.2022. Der Wirtschaftswissenschaftler Axel Börsch-Supan begrüßte die Wiedereinführung des Nachholfaktors, der ein Bestandteil der Rentengarantie und mit ihr zusammen eingeführt worden sei. Die Rentengarantie hatte im vergangenen Jahr dazu geführt, dass die Renten nicht gesunken sind, obwohl die Löhne pandemiebedingt deutlich gesunken waren. Im Sinne der Generationengerechtigkeit sei es wichtig dafür zu sorgen, dass nicht jeder Wirtschaftseinbruch die ältere Generation besserstelle, auf Kosten einer permanenten Beitragserhöhung zu Lasten der jüngeren Generation, sagte Börsch-Supan.

BDA und DGB gegen Streichung der Bundeszuschüsse

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bewertete die Reaktivierung des Nachholfaktors ebenfalls positiv. Nachholfaktor und Rentengarantie gehörten zusammen. Die geplante Streichung der gesetzlich zugesagten Sonderzahlungen des Bundes an die Rentenversicherung kritisierte der BDA hingegen. Zu einer verlässlichen Rentenpolitik gehöre es, dass finanzielle Zusagen eingehalten werden und nicht nach Kassenlage oder für andere politische Vorhaben wieder gestrichen werden, sagte der BDA-Vertreter mit Blick auf die noch im Referentenentwurf vorgesehene Umwidmung der Zuschüsse zugunsten des Bürgergeldes. Der Deutschen Gewerkschaftsbund teilte die Kritik an der Streichung der Bundeszuschüsse, lehnte aber die Reaktivierung des Nachholfaktors ab. Dies mindere die Rentenanpassung 2022 um 1,17%, sodass die Renten langsamer stiegen als die maßgeblichen Löhne und das Rentenniveau in 2022 von 48,3 auf 48,1% sinke. Es gelte aber, das Rentenniveau nicht nur dauerhaft zu stabilisieren, sondern auch wieder auf mindestens 50% anzuheben.

Forderung nach generationengerechter Weiterentwicklung des Rentensystems

Ein Zuschlag zu den Erwerbsminderungsrenten sei sinnvoll und notwendig, befand der Sozialwissenschaftler Felix Welti. Die Höhe und die Frist des Inkrafttretens sollten seiner Ansicht nach aber überprüft werden. Zudem müssten Instrumente gesetzlich und politisch verankert werden, die eine solche nachgelagerte Lösung nicht wieder erforderlich werden lassen und das Ziel einer armutsfesten Lebensstandardsicherung bei Erwerbsminderung erreichen. Der Rechtswissenschaftler Heinz-Dietrich Steinmeyer forderte, das Rentensystem im Interesse der Beitragszahler und Leistungsbezieher weiterzuentwickeln. Dabei müsse ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Beitrags- und Steuerlast auf der einen Seite und einem angemessenen Leistungsniveau auf der anderen Seite hergestellt werden. Nur damit, so Steinmeyer, werde auch der Generationengerechtigkeit Rechnung getragen.

Redaktion beck-aktuell, 31. Mai 2022.