Experten bewerten geplante Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie kritisch

Zu unterschiedlichen Bewertungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (BT-Drs. 19/13829) sind die acht geladenen Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz am 23.10.2019 gekommen. Mit der bereits einmal im Plenum beratenen Vorlage soll die EU-Richtlinie 2016/1919 über Prozesskostenhilfe (PKH) für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls umgesetzt werden. Erforderlich sind laut Entwurf Anpassungen der Strafprozessordnung und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen.

Grundsätzliche Beibehaltung des bewährten Systems

Die PKH-Richtlinie, die bis zum 05.05.2019 in nationales Recht umzusetzen war, flankiert dem Entwurf zufolge das Recht auf Zugang zum Rechtsbeistand, indem zur Gewährleistung von dessen Effektivität Beschuldigten und gesuchten Personen die Unterstützung eines durch die Mitgliedstaaten finanzierten Rechtsbeistands zur Verfügung gestellt wird. Hierzu lege sie gemeinsame Mindestvorschriften über das Recht auf Prozesskostenhilfe fest. Die Umsetzung der PKH-Richtlinie soll unter grundsätzlicher Beibehaltung des bewährten Systems der notwendigen Verteidigung erfolgen.

Strafverteidiger fürchten Eingriff in Rechte Beschuldigter

Die eingeladenen Strafverteidiger hielten mit ihrer Kritik an dem Entwurf nicht hinterm Berg und warfen der Bundesregierung vor, in die Rechte Beschuldigter eingreifen zu wollen. Der Berliner Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied im Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins (DAV), bezeichnete die Vorlage als einen Rückschritt gegenüber dem Referentenentwurf, der noch eine behutsame Erweiterung des bisherigen Systems der Pflichtverteidigung in Aussicht genommen habe. Der Referentenentwurf habe einen Fall notwendiger Verteidigung und anwaltlicher Beiordnung zum Zeitpunkt der erstmaligen polizeilichen Vernehmung einer beschuldigten Person indiziert, sagte Conen. Jetzt solle eine entsprechende Feststellung und Beiordnung grundsätzlich von einer entsprechenden Antragstellung des Beschuldigten abhängig gemacht werden. Dies bedeute einen Bruch im bisherigen System der notwendigen Verteidigung.

Abbau von Verfahrensgarantien

Conens Kollege Stephan Schneider von der Vereinigung Berliner Strafverteidiger sprach von einem Abbau von Verfahrensgarantien für Beschuldigte in Strafverfahren. Eine notwendige Verteidigung diene nicht nur dem Schutz des Beschuldigten. Sie liege im gesellschaftlichen Interesse und dürfe nicht allein von einem Antrag des Beschuldigten abhängig gemacht werden. Der Frankfurter Fachanwalt für Strafrecht Holger Matt, Honorarprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, erklärte, der Regierungsentwurf verfolge in europarechtswidriger Weise eine Minimierung und Aushöhlung der notwendigen Verteidigung, "verschlimmbessere" den ursprünglichen Referentenentwurf und mache Korrektur- und Ergänzungsbedarf bei einzelnen neuen Regelungen erforderlich. Der Zugang zum Recht müsse für diejenigen abgesichert werden, die dies aus eigenen Kräften nicht könnten oder wollten. Matt merkte auch an, dass die frühe Verteidigung generell keine unzuträgliche Verzögerung von Strafverfahren bewirke, sondern, ganz im Gegenteil, nicht selten eine Beschleunigung.

Gute Gründe für Verteidigung zu frühem Zeitpunkt

Der Rechtsanwalt Helmut Pollähne, Honorarprofessor für Strafrecht an der Universität Bremen, sagte, es gebe gute Gründe die Verteidigung von Beschuldigten in ein frühes Stadium der Ermittlungen vorzuverlegen und es nicht bei Hinweisen der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu belassen. Kritisch sieht er dagegen das Vorhaben, anwaltlichen Beistand von einem Antrag abhängig zu machen. Dies sei ein Bruch im bewährten System der Pflichtverteidigung.

Staatsanwalt: Ausweitung notwendiger Verteidigung entspricht nicht Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie

Aber auch die Vertreter der Ermittlerseite hatten Bedenken gegen den Entwurf. Andreas Heuer, Generalstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg, sagte, die Vorlage sei abzulehnen, da sie in weiten Teilen nicht dem Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie entspreche und deren Vorgaben zum Teil zuwider laufe. Da sich Beschuldigte bereits nach geltendem Recht in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigers bedienen könnten, entspreche die Ausweitung der notwendigen Verteidigung im Regierungsentwurf nicht dem Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie. Dort sei ein Anspruch auf finanzielle Hilfe, keine zwangsweise Beiordnung, auch nicht im Ermittlungsverfahren, vorgesehen. Sie dürfe nicht losgelöst von der EU-Richtlinie 2013/48 betrachtet werden, die allein den Zugang zum Rechtsbeistand regele und die von der PKH-Richtlinie nur insoweit ergänzt werde, als dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand nicht an mangelnden finanziellen Mitteln scheitern solle. Heuer fügte hinzu, dass die Umsetzung des Regierungsentwurfs, etwa durch eine anwaltliche Verteidigung bereits bei der ersten Beschuldigtenvernehmung durch die Polizei, erhebliche negative Auswirkungen auf die Strafverfolgung haben werde.

Keine Veranlassung für überobligatorische Umsetzung

Auch Oberstaatsanwältin Lisa Kathrin Sander von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sieht das so. Oberstes Regelungsanliegen sollte daher sein, in dieses System nur insoweit einzugreifen, als Anpassungen europarechtlich zwingend notwendig sind. Der derzeitige Gesetzentwurf sehe jedoch eine weitgehende Ausweitung der Pflichtverteidigung auf das Ermittlungsverfahren vor, die von der Richtlinie nicht gefordert und angesichts der bestehenden Belehrungs- und Beiordnungsvorschriften auch nicht geboten sei. Es bestehe keine Veranlassung für eine überobligatorische Umsetzung der Richtlinien-Vorgaben.

Wesentliche Abkehr von bisheriger Rechtspraxis

Dirk Peglow, Stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), erwartet von einer Umsetzung des Entwurfs in der vorgelegten Fassung eine nachhaltige Veränderung der polizeilichen und justiziellen Praxis, deren Folgen im Hinblick auf die Aufklärung schwerer Straftaten noch nicht absehbar seien. Aufgrund der beabsichtigten Vorverlagerung der Pflichtverteidigerbestellung auf den Zeitpunkt vor der ersten polizeilichen Vernehmung stehe eine wesentliche Abkehr von der bisherigen Rechtspraxis an, die diese Entscheidung bislang erst zum Zeitpunkt der richterlichen Vorführung für erforderlich erachtet habe. Auch die Erläuterungen zum Gesetzentwurf seien für die Rechtsanwendung aus Sicht der polizeilichen Praxis wenig hilfreich.

Gesetzgebungsverfahren muss zügig seinen Fortgang nehmen

Matthias Jahn vom Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main, begrüßte die Vorlage, sah einige Punkte aber auch kritisch. Von einem Ende des Strafverfahrensrechts, wie in der Diskussion bemerkt, könne jedoch keine Rede sein. Der Professor erklärte mit Blick auf die längst abgelaufene Umsetzungsfrist der PKH-Richtlinie, dass das Gesetzgebungsverfahren auf der Basis des Regierungsentwurfs, aber mit Nachbesserungen, zügig seinen Fortgang nehmen sollte. Die Umsetzung der Richtlinie innerhalb des bisherigen Systems der notwendigen Verteidigung verstoße aus seiner Sicht nicht gegen die Richtlinienvorgaben. Dem Gesetzgeber sei anzuraten, die Feststellung der Notwendigkeit der Verteidigung zeitlich vorzuverlagern, um eine Beiordnung vor einer ersten verantwortlichen polizeilichen Vernehmung in allen relevanten Fällen sicherzustellen, wie es in anderen Mitgliedstaaten der EU und in der Schweiz längst gelebte Rechtspraxis sei.

Redaktion beck-aktuell, 24. Oktober 2019.