Europaausschuss: Viel Kritik an Karlsruher EZB-Urteil

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) ist bei Experten im Bundestag auf erhebliche Kritik gestoßen. Zahlreiche Sachverständige sprachen während einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses am 25.05.2020 von einer Kompetenzüberschreitung der Karlsruher Richter und warnten den Bundestag davor, den Konflikt mit dem EuGH infolge des Urteils weiter eskalieren zu lassen.

Professor Mayer: Europäische Rechtsgemeinschaft durch Urteil bedroht

Nach Ansicht von Professor Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld steht die europäische Rechtsgemeinschaft auf dem Spiel. Der Richterspruch sei ein Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB sowie des Europäischen Gerichtshofs, der die Anleihekäufe 2018 gebilligt hatte. Absehbar werde dies weitere Klagen nach sich ziehen, warnte Mayer mit Blick unter anderem auf das gerade beschlossene Pandemie-Notfallankaufprogramm PEPP. Für Bundestag und Bundesregierung bleibe "rätselhaft", was das BVerfG von ihnen verlange. Seiner Ansicht nach haben beide hinsichtlich der von den Richtern geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf die sie gegenüber der EZB hinwirken sollen, "weiten Spielraum".

Wegener: BVerfG überzieht eigene Kompetenzen "eklatant"

Von einem "Fehlurteil" sprach Bernhard W. Wegener von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. In dem das Bundesverfassungsgericht die europäischen Kompetenzen einhegen wolle, überziehe es seine eigenen "in eklatanter Art und Weise". Der im Urteil aufgeworfene Maßstab der Verhältnismäßigkeit sei in einer Rechtsgemeinschaft zudem "an jeder Stelle und zu jedem Zeitpunkt" streitbar. Dem Bundestag empfahl Wegener, sich inhaltlich von dem Beschluss abzugrenzen. Außerdem sollten die Abgeordneten die Unabhängigkeit von EuGH und EZB betonen und die EZB bitten, ihnen die eigene Einschätzung zu bestätigen, nach der an der Verhältnismäßigkeit des PSPP-Programms keine Zweifel bestünden. Ähnlich äußerte sich Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG). Die an die EZB gerichtete Bitte auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung solle der Bundestag um eine Erklärung ergänzen, in der unter anderem klargestellt werde, dass er keine Eingriffe in den Instrumentenkasten der EZB wünsche und bezwecke.

LMU-Professor: Weitgehende Instrumentalisierung von Verfassungsorganen

Christian Walter von der LMU München sprach wegen der Verpflichtung auf die Unabhängigkeit der EZB von einer "heiklen politischen und rechtlichen Situation" für den Bundestag. Das BVerfG nehme das Parlament in die Pflicht, weil ihm selbst die "Kassationsbefugnis gegenüber den Rechtsakten der EU" fehle. Dies stelle eine "weitgehende Instrumentalisierung von Verfassungsorganen" dar. Auch Claus-Dieter Classen von der Universität Greifswald warnte, das Urteil habe das Potenzial, eine "große Krise" auszulösen. Der Bundestag könne nur Rechtspositionen formulieren, inwieweit diese die EZB beeindrucken würden, bleibe aber abzuwarten.

DIW: EZB hat Preisstabilität zu wahren

Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) legte das Augenmerk auf das Mandat der EZB, wonach deren Aufgabe sei, die Preisstabilität zu wahren. Würde dieses Mandat eingeschränkt, gefährde dies die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Zentralbank. "Wie kann eine Geldpolitik, die versucht, ihr Mandat zu erfüllen, nicht verhältnismäßig sein?", fragte Fratzscher. Christian Callies von der Freien Universität Berlin betonte ebenfalls das vorrangige Ziel der Preisstabilität. Zwar könne die EZB ausnahmsweise gerichtlich kontrolliert werden, wenn sie ihr Mandat überschreite. Nach der Konzeption der EU-Verträge sei dafür jedoch nicht das BVerfG, sondern der EuGH zuständig, so Callies weiter. Der Bundestag könne, so er denn mehrheitlich der Meinung wäre, dass die EZB mit dem PSPP-Programm ihr Mandat überschreite, eine Entschließung verabschieden, in der er die Bundesregierung zu einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH auffordere. Bernhard W. Wegener verwies jedoch darauf, dass der Bundestag diese Rechtsauffassung aber nie geteilt habe.

Kritik an EZB-Politik

Kritischer gegenüber der EZB und der Rolle der EU-Mitgliedstaaten äußerten sich Jürgen Rocholl von der European School of Management and Technology (ESMT) und Dirk Meyer von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Rocholl wertete das Urteil als "Sprengstoff" für weitere Aktionen der EZB und warnte davor, das Mandat der EZB zu weit auszulegen. Deren Rolle sei in den vergangenen Jahren immer größer geworden, sodass eine Überforderung drohe. Ein Grund dafür sei das Versäumnis der politischen Ebene, mehr Schritte in Richtung europäische Integration zu machen.

Regelmäßige Kontrolle durch Europaausschuss möglich

Nach Ansicht von Meyer ergibt die Analyse des PSPP-Programms in drei Punkten Hinweise, dass die deutschen Verfassungsorgane ihrer Integrationsverantwortung nicht ausreichend nachgekommen seien und es unter anderem Verstöße gegen das Verbot zur monetären Staatsfinanzierung gegeben habe. Um das zukünftig - etwa beim Pandemie-Notfallankaufprogramm - zu verhindern, sprach er sich in seiner Stellungnahme für eine institutionalisierte und regelmäßige Kontrolle entsprechender Programme, beispielsweise durch den Europaausschuss, aus.

Redaktion beck-aktuell, 26. Mai 2020.