Europaausschuss: Experten uneinig über EU-Sozialpolitik

Das von der EU-Kommission im April 2017 vorgelegte Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas hat am 21.06.2017 in einer öffentlichen Anhörung des Europaauschusses gemischte Reaktionen bei Experten hervorgerufen. Während die einen begrüßten, dass die EU sich des Themas verstärkt annehme, da wirtschaftliche Rechte zunehmend Vorrang vor sozialen Rechten bekommen hätten, warnten andere vor einer Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene und negativen Folgen. Sie sahen bei sozialpolitischen Entscheidungen in erster Linie die Nationalstaaten in der Verantwortung.

Experte: Europa der zwei Geschwindigkeiten besser als nichts

Nach Ansicht von Eberhard Eichenhofer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena erinnert das Kommissionspapier an das der EU letztlich zugrunde liegende sozialpolitische Motiv, das schon der frühere britische Premierminister Winston Churchill 1946 in seiner Züricher Rede beschworen habe. Es sei gut, dass sich die EU dieser Zweckbestimmung versichere und vergewissere. Wenn nicht alle EU-Mitgliedstaaten in dieser Frage handeln wollten, sei ein Europa der zwei Geschwindigkeiten immer noch besser, als nichts zu tun, befand er. "Das gemeinsame Handeln der Vielen ist besser als das Nichtstun aller."

IG Bau besorgt über "Dominanz von Binnenmarktfreiheiten über soziale Regulierungen"

Frank Schmidt-Hullmann, Hauptabteilungsleiter Politik und Grundsatzfragen bei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), kritisierte die zunehmende "Dominanz von Binnenmarktfreiheiten über soziale Regulierungen" in der EU. Das sei in den Nationalstaaten anders. "Wenn wir Europa wieder sozial machen möchten, müssen wir es wieder so konditionieren, wie es in den einzelnen Staaten üblich ist", betonte er. Wirtschaftliche Rechte dürften keinen Vorrang vor Menschenrechten haben.

DGB: Lob und Tadel für die EU-Kommission

Nach Ansicht des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, ist die Zielsetzung einer stärkeren Konvergenz in der Europäischen Union "deutlich unter die Räder" gekommen. Er begrüßte daher das Vorhaben der Kommission, eine europäische Säule sozialer Rechte zu schaffen, mit deren Hilfe faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme unterstützt werden sollen. Mit Blick auf die Austeritätspolitik in Griechenland und Eingriffe, etwa in das Streikrecht, warf er der EU-Kommission aber widersprüchliches Handeln vor. Statt einer glaubhaften Strategie für das soziale Europa von morgen habe die Kommission eine reine Absichtserklärung vorgelegt. Dabei müsste der europäische "Spar-, Lohnsenkungs- und Deregulierungswettlauf" dringend gestoppt werden.

BDA-Vertreter moniert "Überinterpretation der Verträge"

Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hielt den drei Sachverständigen entgegen, dass eine europäische Sozialpolitik nicht unbedingt effizienter sein müsse. "Eine weitere Verrechtlichung der Spielräume, die eine lebendige Sozialpartnerschaft ausfüllen können, ist kontraproduktiv", urteilte er. Kampeter warf der Kommission eine "Überinterpretation der Verträge" vor und sprach von dem Versuch, Souveränität auf die europäische Ebene zu transferieren. Sein Rat an die Abgeordneten: "Springen Sie nicht der Kommission bei, sondern verfolgen Sie vernünftige subsidiäre Ansätze."

Experte: Sozialpolitische Kompetenz vorrangig bei den Mitgliedstaaten

Auch der Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, Professor Michael Eilfort, sah die vorrangige sozialpolitische Kompetenz bei den Mitgliedstaaten. Die Autonomie kleinerer Einheiten sei einer zentral administrierten und regulierten europäischen Sozialpolitik vorzuziehen, da es regional unterschiedliche Präferenzen gebe, betonte er. Außerdem könnten EU-weit einheitlich geregelte soziale Leistungen die Wettbewerbsfähigkeit wirtschaftlich schwächerer Regionen beeinträchtigen und sie ökonomisch überfordern.

Redaktion beck-aktuell, 22. Juni 2017.