Grenzen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sind eng gesteckt

Die Mitgliedstaaten müssen einen europäischen Haftbefehl (EHB) auch dann vollstrecken, wenn der Ausstellungsmitgliedstaat nicht zugesichert hat, dass das Recht eines in Abwesenheit Verurteilten auf eine neue Verhandlung gewahrt wird. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 17.12.2020 in einem Fall entschieden, in dem ein Rumäne aufgrund seiner Flucht nach Deutschland nicht persönlich zur Verhandlung in Rumänien erschienen ist.

Rumänische Behörden erlassen EHB

Ein rumänischer Staatsangehöriger wurde in Rumänien im Rahmen von zwei gesonderten Verfahren strafrechtlich verfolgt. Da er nach Deutschland geflüchtet war, fanden die ihn betreffenden Verfahren in seiner Abwesenheit, jedoch mit anwaltlicher Vertretung statt. Die Verhandlungen führten zu Verurteilungen zu zwei Freiheitsstrafen. Zu ihrer Vollstreckung erließen die rumänischen Behörden zwei EHB.

OLG Hamburg will ausliefern

Ende Mai 2020 beschloss das OLG Hamburg den EHB Folge zu leisten und den Verurteilten, der sich inzwischen in Hamburg in Haft befand, auszuliefern. Der Rumäne ist dem entgegengetreten und hat darauf verwiesen, dass die rumänischen Behörden sich geweigert hätten, die Wiederaufnahme der fraglichen Strafverfahren zu garantieren. Dies sei unvereinbar mit dem Recht beschuldigter Personen auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung gemäß Art. 8 der Richtlinie (EU) 2016/343 bzw. - im Fall der Abwesenheit - ihrem Recht auf eine neue Verhandlung gemäß Art. 9 der Richtlinie.

Auslegung von Art. 4a des Rahmenbeschlusses über den EHB

Das OLG hatte somit darüber zu entscheiden, ob die Übergabe auf der Grundlage der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung von Art. 4a des Rahmenbeschlusses über den EHB zulässig ist. Nach Art. 4a kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EHB, der zur Vollstreckung einer in Abwesenheit des Betroffenen verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, verweigern, es sei denn, dass eine der dort abschließend aufgezählten Fallgruppen vorliegt. Da keine der Fallgruppen einschlägig ist, wollte das OLG vom EuGH wissen, welche Auswirkungen es im konkreten Fall hat, wenn im Ausstellungsmitgliedstaat die Anforderungen in Bezug auf das Recht auf eine neue Verhandlung nicht eingehalten werden.

EuGH: Ablehnungsgründe abschließend gesetzlich geregelt

Der EuGH stellte nunmehr klar, dass die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines EHB ablehnen können, im Rahmenbeschluss über den EHB abschließend aufgezählt seien. Die vollstreckende Justizbehörde dürfe die Vollstreckung eines EHB nicht von anderen Bedingungen abhängig machen. Zudem könne die Nichtbeachtung jener Bestimmungen des Unionsrechts, die das Recht auf eine neue Verhandlung gewährleisten, der Vollstreckung eines EHB nicht entgegenstehen, da sonst das durch den Rahmenbeschluss über den EHB geschaffene System umgangen würde. Die Vollstreckung eines EHB, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, kann in einem Fall, in dem die betroffene Person ihre persönliche Ladung verhindert hat und aufgrund ihrer Flucht in den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, daher nicht allein deshalb verweigert werden, weil der Ausstellungsmitgliedstaat nicht zugesichert hat, dass das Recht dieser Person auf eine neue Verhandlung gewahrt wird.

Betroffener kann in Rumänien gegen Verletzungen seiner Rechts vorgehen

Dies ändere jedoch nichts daran, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Bestimmungen des Unionsrechts einhalten muss, die das Recht auf eine neue Verhandlung garantieren. Sofern er sie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, kann sich der Betroffene daher im Fall seiner Übergabe vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats auf die Bestimmungen berufen, die unmittelbare Wirkung haben.

EuGH, Urteil vom 17.12.2020 - C-416/20

Redaktion beck-aktuell, 18. Dezember 2020.