EuGH: Zwangshaft gegen Bayerische Regierungsmitglieder wegen Luftverschmutzung in München an zwei Voraussetzungen geknüpft

Der Europäische Gerichtshof hat sich erstmals dazu geäußert, ob die nationalen Gerichte befugt oder sogar verpflichtet sind, Zwangshaft gegen die Verantwortlichen nationaler Behörden zu verhängen, die sich beharrlich weigern, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihnen aufgegeben wird, ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Konkret geht es um nicht getroffene Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität in München. Der EuGH hat dazu entschieden, dass nur dann Zwangshaft gegen die Verantwortlichen des Freistaats Bayern verhängt werden kann, wenn es dafür im nationalen Recht eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage gibt und wenn die Zwangsmaßnahme verhältnismäßig ist. Es sei nun Sache des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in München zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 19.12.2019, Az.: C-752/18).

Deutsche Umwelthilfe verklagt Freistaat Bayern

Der Gerichtshof ist im Rahmen eines Rechtsstreits angerufen worden, den die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen den Freistaat Bayern wegen dessen beharrlicher Weigerung führt, zur Umsetzung der Richtlinie 2008/50 über Luftqualität die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit in der Stadt München der Grenzwert für Stickstoffdioxid eingehalten wird. Der Freistaat Bayern wurde im Jahr 2012 dazu verurteilt, seinen für diese Stadt geltenden Luftreinhalteplan zu ändern.

Freistaat will seine Verpflichtungen nicht erfüllen

Im Jahr 2016 wurde der Freistaat unter Androhung von Zwangsgeld aufgefordert, seinen Verpflichtungen nachzukommen, unter anderem durch Verkehrsverbote für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotor in Teilen des Stadtgebiets. Da der Freistaat sich jedoch weigerte, diese Anordnungen zu befolgen, wurde im Jahr 2017 ein Zwangsgeld in Höhe von 4.000 Euro gegen ihn festgesetzt, das er beglich. Er weigert sich weiterhin, die Anordnungen zu befolgen, und seine Vertreter haben öffentlich erklärt, dass er seinen Verpflichtungen nicht nachkommen werde.

DUH beantragt Zwangshaft für Verantwortliche des Freistaats

Deshalb beantragte die DUH zum einen, gegen den Freistaat ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 4.000 Euro festzusetzen. Diesem Antrag wurde mit Beschluss vom 28.01.2018 stattgegeben. Zum anderen beantragte sie, gegen die Verantwortlichen des Freistaats (die Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz oder, hilfsweise, den Ministerpräsidenten) Zwangshaft zu verhängen. Dies wurde mit Beschluss gleichen Datums abgelehnt.

VGH München: Zwangsgelder wirkungslos

Der vom Freistaat angerufene Bayerische VGH hat die Festsetzung des Zwangsgelds bestätigt und den EuGH um Vorabentscheidung darüber ersucht, ob Zwangshaft verhängt werden kann. Er hat ausgeführt, die Auferlegung von Zwangsgeldern sei nicht geeignet, an dem Verhalten des Freistaats etwas zu ändern, da sie ihm wieder zuflössen und nicht mit einer Vermögenseinbuße einhergingen.

VGH: Deutsches Verfassungsrecht schließt Zwangshaft hier aus

Überdies sei die Verhängung von Zwangshaft aus innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Der Bayerische VGH hat dem EuGH daher die Frage vorgelegt, ob das Unionsrecht, insbesondere das durch Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, dahin auszulegen ist, dass es die nationalen Gerichte zum Erlass einer solchen Maßnahme ermächtigt oder sogar verpflichtet.

EuGH: Zwei Voraussetzungen müssen für Zwangshaft erfüllt sein

Der Gerichtshof hat entschieden, dass unter Umständen, die durch die beharrliche Weigerung einer nationalen Behörde gekennzeichnet sind, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihr aufgegeben wird, eine klare, genaue und unbedingte Verpflichtung zu erfüllen, die sich aus dem Unionsrecht, etwa aus der Richtlinie 2008/50, ergibt, das zuständige nationale Gericht Zwangshaft gegen die Verantwortlichen des Freistaats Bayern zu verhängen hat, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen müsse es im innerstaatlichen Recht eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Maßnahme geben. Zum anderen müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.

EuGH: Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz zu gewährleisten

Insoweit hat der EuGH zunächst darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass das sowohl in Art. 47 der Charta als auch, für den Umweltbereich, in Art. 9 Abs. 4 des Aarhus-Übereinkommens verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewahrt ist. Dieses Recht sei umso bedeutsamer, als das Unterbleiben der von der Richtlinie 2008/50 vorgegebenen Maßnahmen die Gesundheit von Personen gefährden würde. Nationale Rechtsvorschriften, die zu einer Situation führen, in der das Urteil eines Gerichts wirkungslos bleibt, verletzten aber den Wesensgehalt dieses Rechts und nähmen ihm jede praktische Wirksamkeit. In einem solchen Fall müsse das nationale Gericht sein nationales Recht so auslegen, dass es so weit wie möglich im Einklang mit den Zielen der genannten Bestimmungen steht. Sei es dazu außerstande, müsse es jede nationale Bestimmung unangewendet lassen, die dem unmittelbare Wirkung entfaltenden Unionsrecht entgegensteht.

Freiheitsentzug muss auf präziser Rechtsgrundlage fußen

Der Gerichtshof hat jedoch hinzugefügt, dass die Beachtung der letztgenannten Verpflichtung nicht dazu führen darf, dass ein anderes Grundrecht verletzt wird, und zwar das durch Art. 6 der Charta garantierte und durch die Zwangshaft eingeschränkte Recht auf Freiheit. Da das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz kein absolutes Recht ist und nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen unterliegen kann, sei eine Abwägung der in Rede stehenden Grundrechte vorzunehmen. Um den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu genügen, müsse eine Rechtsvorschrift, die es einem Gericht gestattet, einer Person ihre Freiheit zu entziehen, zunächst hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar sein, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden; dies zu beurteilen sei Sache des vorlegenden Gerichts.

Verhängung von Zwangshaft müsste auch verhältnismäßig sein

Überdies dürfe auf die Verhängung von Zwangshaft, da mit ihr ein Freiheitsentzug verbunden ist, aufgrund der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, nur zurückgegriffen werden, wenn es keine weniger einschneidende Maßnahme (wie zum Beispiel mehrere hohe Geldbußen in kurzen Zeitabständen, die nicht letzten Endes dem Haushalt zufließen, aus dem sie stammen) gibt. Auch dies müsse das vorlegende Gericht prüfen. Nur für den Fall, dass die mit der Verhängung von Zwangshaft verbundene Einschränkung des Rechts auf Freiheit diesen Voraussetzungen genügt, würde das Unionsrecht den Rückgriff auf eine solche Maßnahme nicht nur gestatten, sondern gebieten. Hinzu komme, dass ein Verstoß gegen die Richtlinie 2008/50 vom Gerichtshof im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage festgestellt werden und zur Haftung des Staates für die daraus resultierenden Schäden führen könne.

EuGH, Urteil vom 19.12.2019 - C-752/18

Redaktion beck-aktuell, 19. Dezember 2019.