EuGH: Gerichtliche Zuständigkeit in grenzüberschreitendem Sorgerechtsstreit

Ein Gericht eines Mitgliedstaats behält die nach der Brüssel-IIa-Verordnung bestehende Zuständigkeit in einem das Sorgerecht betreffenden Rechtsstreit nicht, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 1996 ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Sorgerechtsstreit vor schwedischen Gerichten

Im Jahr 2011 brachte eine Frau in Schweden ein Kind zur Welt, für das das alleinige Sorgerecht hat. Bis Oktober 2019 lebte das Kind durchgängig in Schweden, dann besuchte es ein Internat in Russland. Im Dezember 2019 beantragte der Vater des Kindes vor dem zuständigen erstinstanzlichen schwedischen Gericht, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen und seinen Wohnsitz in Schweden als gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Die Kindsmutter berief sich auf die Unzuständigkeit des schwedischen Gerichts, weil das Kind seit Oktober 2019 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Russland habe. Das schwedischen Gerichte wiesen diese Einrede der Unzuständigkeit zurück, weil zum Zeitpunkt der Antragstellung der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes noch nicht nach Russland verlegt gewesen sei. Der Oberste Gerichtshof legte die Rechtsfrage dem EuGH vor.

EuGH: Gewöhnlicher Aufenthalt im Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich

Der EuGH stellt fest, dass für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, nach Art. 8 Abs. 1 der Brüssel-IIa-Verordnung die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese seien wegen ihrer räumlichen Nähe grundsätzlich am Besten in der Lage, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen. Gemäß dem Grundsatz der "perpetuatio fori" verliere das Gericht seine Zuständigkeit selbst dann nicht, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Lauf des Verfahrens verlegen sollte. Das Gericht sei auch insoweit zuständig, als der Rechtsstreit das Verhältnis zu einem Drittstaat betrifft.

Aufenthaltsverlegung in Drittstaat während Verfahrens lässt Zuständigkeit entfallen

Da Art. 61 Buchst. a der Brüssel-IIa-Verordnung vorsehe, dass die Brüssel-IIa-Verordnung im Verhältnis zum Haager Übereinkommen von 1996 anwendbar ist, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung des zuständigen Gerichts "das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat", müsse im Umkehrschluss Art. 8 Abs. 1 hinter dem Haager Übereinkommen von 1996 zurückstehen, wenn das Kind zu diesem Zeitpunkt seinen Aufenthalt nicht mehr im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sondern in dem eines Drittstaat hat, der Vertragspartei dieses Übereinkommens ist. Somit finde Art. 8 Abs. 1 keine Anwendung mehr, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, bevor das Gericht eines Mitgliedstaats entschieden hat. Diese Beschränkung der Anwendbarkeit von Art. 8 Abs. 1 sei auch mit der Absicht des Unionsgesetzgebers vereinbar, nicht gegen die Vorschriften dieses Übereinkommens zu verstoßen.

EuGH, Urteil vom 14.07.2022 - C-572/21

Redaktion beck-aktuell, 14. Juli 2022.