Streit um Ausgleichzahlung für Torfgebiete in Natura-2000-Schutzgebiet
2002 kaufte das Unternehmen Sātiņi-S in Lettland 7,7 Hektar große Torfgebiete, die in einem Naturschutzgebiet und einem Natura-2000-Schutzgebiet von europäischer Bedeutung liegen. Wegen des Verbots, Moosbeeren in diesen Torfgebieten anzupflanzen, beantragte das Unternehmen 2017 eine Ausgleichszahlung für die Jahre 2015 und 2016. Der Dienst zur Unterstützung des ländlichen Raums lehnte dies ab. Er verwies darauf, dass das lettische Recht eine solche Ausgleichszahlung nicht vorsehe. Die anschließende Klage bei einem lettischen Verwaltungsgericht hatte keinen Erfolg. Die anschließende Kassationsbeschwerde brachte die Sache vor das Oberste Gericht, das den EuGH zur Auslegung der ELER-Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 und Art. 17 der EU-Grundrechtecharta anrief. Nach Art. 30 der ELER-Verordnung wird jährlich eine Ausgleichzahlung für zusätzliche Kosten und Einkommensverluste gewährt, die den Begünstigten aufgrund von Nachteilen in dem betreffenden Gebiet im Zusammenhang mit der Umsetzung der Habitat-, der Vogelschutz- und der Wasserrahmenrichtlinie entstehen. Art. 30 Abs. 6 legt zudem fest, dass als Natura-2000-Gebiete nach der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesene land- und forstwirtschaftliche Gebiete für Zahlungen in Betracht kommen.
EuGH: Ausgleichszahlungen für Torfgebiete können ausgeschlossen werden
Laut EuGH kommen "Torfgebiete" oder "Moorgebiete" in Natura-2000-Gebieten für Ausgleichszahlungen nach Art. 30 der ELER-Verordnung in Betracht, wenn sie von den Begriffen "landwirtschaftliche Fläche" oder "Wald" erfasst werden. Ob Torfgebiete nach ihrer konkreten Ausgestaltung unter diese Begriffe fallen, sei vom nationalen Gericht im Rahmen der Tatsachenwürdigung zu beurteilen. Nach Ansicht des EuGH können die EU-Mitgliedstaaten Torfgebiete aber von den Natura 2000-Zahlungen ausschließen oder Zahlungen auf Fälle beschränken, in denen die Ausübung einer bestimmten Art der wirtschaftlichen Tätigkeit, insbesondere die forstwirtschaftliche Tätigkeit, infolge der Ausweisung als "Natura-2000-Gebiete" erschwert wird.
Kein entschädigungspflichtiger Eigentumsentzug
Ein Anspruch auf eine Zahlung ergibt sich nach Auffassung des EuGH im vorliegenden Fall auch nicht aus Art. 30 der ELER-Verordnung in Verbindung mit Art. 17 der EU-Grundrechtecharta. Art. 17 der Charta eröffne ausdrücklich nur im Fall eines Entzugs des Eigentumsrechts wie einer Enteignung einen Anspruch auf Entschädigung. Hier stelle das Verbot der Anpflanzung von Moosbeeren auf einem zum Natura-2000-Netz gehörenden Vermögensgegenstand keinen Entzug des Eigentumsrechts an diesem Vermögensgegenstand dar. Es handele sich vielmehr um eine Beschränkung seiner Nutzung, die gesetzlich geregelt werden könne, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich sei, wie Art. 17 Abs. 1 Satz 3 der Charta vorsehe. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist aber nicht ersichtlich, dass eine Maßnahme, die lediglich die Anpflanzung von Moosbeeren in Torfgebieten zum Schutz der Natur und der Umwelt verbiete, bei fehlender Ausgleichszahlung zugunsten der betroffenen Eigentümer einen unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen würde, der den Wesensgehalt ihres Eigentumsrechts antaste.
Streit um Entschädigung für Aquakulturschäden in Natura-2000-Gebiet durch geschützte Tierarten
Im zweiten Fall (Az.: C-238/20) ging es um von dem Unternehmen 2002 gekaufte Grundstücke mit einer Gesamtfläche von 687 Hektar, davon 600,70 Hektar Teiche, in einem Naturschutzgebiet, das 2005 in das Natura-2000-Netz in Lettland aufgenommen wurde. 2017 beantragte das Unternehmen eine Entschädigung für Schäden, die von geschützten Vogelarten und anderen geschützten Tierarten an der Aquakultur verursacht worden waren. Die Behörde lehnte eine Entschädigung mit der Begründung ab, dass Sātiņi-S bereits ein Gesamtbetrag entsprechend den in der Verordnung (EU) Nr. 717/2014 über De-minimis-Beihilfen im Fischerei- und Aquakultursektor vorgesehenen De-minimis-Vorschriften in Höhe von 30.000 Euro bezogen auf einen Zeitraum von drei Steuerjahren gewährt worden sei. Dagegen klagte das Unternehmen. Es machte geltend, dass die Entschädigung für die durch geschützte Tierarten an der Aquakultur verursachten Schäden in Anbetracht ihres Ausgleichscharakters keine staatliche Beihilfe darstelle. Die Klage blieb in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg. Das mit der Kassationsbeschwerde befasste Oberste Gericht rief den EuGH an. Es wollte unter anderem wissen, ob es sich bei der beantragten Entschädigung um eine Beihilfe handele.
EuGH: Entschädigung darf erheblich niedriger sein als tatsächliche Schäden
Laut EuGH steht Art. 17 der EU-Grundrechtecharta dem nicht entgegen, dass die Entschädigung, die ein Mitgliedstaat für Verluste gewähre, die einem Wirtschaftsteilnehmer durch die nach der Vogelschutzrichtlinie in einem Gebiet des Natura-2000-Netzes geltenden Schutzmaßnahmen entstanden seien, erheblich niedriger sei als die Schäden, die diesem Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich entstanden seien.
Entschädigung kann Beihilfe sein
Weiter ist dem EuGH zufolge Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass eine solche Entschädigung eine "staatliche Beihilfe" im Sinn dieser Bestimmung darstellen kann, sofern die übrigen Voraussetzungen für eine solche Einstufung erfüllt sind. Der EuGH weist darauf hin, dass die Kosten im Zusammenhang mit der Einhaltung der rechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Umwelt, insbesondere der wildlebenden Tiere, und im Zusammenhang mit der Deckung der Schäden, die wildlebende Tiere einem Unternehmen des Aquakultursektors zufügen könnten, zu den normalen Betriebskosten eines solchen Unternehmens gehörten. Daher stelle die Gewährung einer Entschädigung für Schäden, die dem betroffenen Unternehmen durch geschützte Tiere entstanden seien, einen wirtschaftlichen Vorteil dar, den es unter normalen Marktbedingungen grundsätzlich nicht beanspruchen könne.
Obergrenze für De-minimis-Beihilfen auf als Beihilfe zu qualifizierende Entschädigung anwendbar
Schließlich hat der EuGH entschieden, dass für den Fall, dass die Entschädigung die Voraussetzungen einer Beihilfe erfüllt, die Obergrenze für De-minimis-Beihilfen von 30.000 Euro auf diese Entschädigung anwendbar ist. Er stellt fest, dass soweit die Verordnung (EU) Nr. 717/2014 anwendbar sei, der betreffende Mitgliedstaat, wenn er wie im vorliegenden Fall beschließe, die fragliche Beihilfe mit einer Obergrenze von 30.000 Euro zu deckeln, diese als "De-minimis-Beihilfe" einstufen und folglich davon absehen dürfe, Letztere bei der Kommission zu notifizieren.